Mordlast
Sie haben ja sicher keine Zeit, sich darum zu kümmern.«
Er nahm einen Schluck, bevor er nickte.
Das Telefonat, das sie mit der Freundin führte, dauerte nur ein paar Augenblicke, dann legte sie lächelnd den Hörer auf die Schale und drehte sich wieder zu ihm um.
»Diese Wohnung ist etwas Besonderes. Für Kriegsopfer oder besonders verdiente Mitarbeiter gilt die Regel nicht, dass das Wohnrecht nicht auf die Kinder übertragbar ist.«
»Und Herr Propstmeyer war so ein Fall.«
»Ja. Alfons Propstmeyer hat während des Zweiten Weltkriegs als Bauingenieur bei uns gearbeitet. Mehr hat meine Freundin auf die Schnelle leider nicht herausfinden können, aber ich würde Ihnen eine Kopie der Akte schicken, sobald sie mir vorliegt. Ich werde sie aus dem BVG-Archiv anfordern.«
»Danke. Sie können mich aber auch gerne anrufen, wenn sie da ist.« Davídsson sah ihr an, dass sie mit seinem Vorschlag einverstanden war. Vermutlich hatte sie sogar gehofft, dass er ihn machen würde.
Fabian Schubert war in einem Haus am Rande des Prenzlauer Bergs gemeldet. Davídsson hatte die Adresse schnell ausfindig machen können, nachdem er den Namen und das Geburtsdatum in die Suchmaske eingegeben hatte. Es gab nur einen Fabian Schubert mit diesem Geburtsdatum in Berlin.
Vermutlich hätte ihn das Kennzeichen des alten Golfs zur selben Adresse geführt, aber er hatte das erst gar nicht überprüft.
Davídsson lief an einem grünen Sportplatz vorbei, auf dem niemand war. Der Rasen war mit unzähligen Regentropfen bedeckt und die schweren Wolken ließen ahnen, dass er so schnell auch nicht trocknen würde. Das Haus, das zu der Adresse passte, ragte wie ein einsamer Zahn aus einem leeren Gebiss, aber dieser Anblick war für ihn nichts Neues mehr.
Er hatte sich daran gewöhnt, wie er sich auch an das Graffiti an beinahe jeder Hauswand gewöhnt hatte.
In Reykjavík gab es kaum höhere Häuser. In den letzten Jahren waren ein paar moderne Bauten an der Sæbraut hinzugekommen, die den Wohlhabenden einen guten Blick auf das Sólfar und die Bucht ermöglichten, aber ansonsten gab es nur die Hallgrímskirkja, die die niedrigen Gebäude der Stadt überragte. Seitdem Lovísa bei ihm wohnte, dachte er wieder häufiger an seine Heimat. Es war irgendwie ein merkwürdiges Gefühl für ihn.
Der Hauseingang stand offen und die Klingeln waren den einzelnen Stockwerken zugeordnet. Es gab nur eine Klingel mit dem Namen Schubert im zweiten Stock. Er betätigte den Knopf neben einer schlecht lackierten Tür, die eigentlich Besseres verdient hätte.
»Da ist niemand.«
Die Stimme kam von hinten, aber er hatte niemanden die Treppe hinaufkommen gehört. Ólafur Davídsson drehte sich um und sah eine Frau, die ihn kritisch musterte.
»Zu wem wollen Sie?« Ihr Gesicht wirkte jünger, als der krumme Rücken vermuten ließ.
»Zu Familie Schubert.«
»Die sind nicht da.«
»Woher wissen Sie das?« Davídsson versuchte die Frage neugierig klingen zu lassen und nicht vorwurfsvoll.
»Die sind im Urlaub und der Sohn streunt schon seit Tagen irgendwo herum. Ich glaube, er hat eine Freundin, bei der er übernachtet.«
»Haben Sie einen Schlüssel für die Wohnung?«
»Was geht Sie das an?« Sie richtete sich ein wenig auf.
Davídsson bewunderte den Mut der Frau. Er hätte sie spielend leicht zur Seite schieben oder Schlimmeres mit ihr anstellen können.
»Sind Sie einer von diesen …«
»Ich bin Polizist.« Er zog seinen Ausweis aus dem Portemonnaie und zeigte ihn ihr. Die Frau studierte das Papier. Sie war wieder in sich zusammengesunken.
»Ich weiß immer noch nicht, was Sie das angeht, ob ich einen Schlüssel habe oder nicht. Der Ausweis erklärt das schließlich nicht, oder?«
»Fabian Schubert hatte einen Unfall. Er liegt im Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Lichtenberg. Ich wollte nach dem Rechten schauen.«
»Aha.« Sie überlegte einen Moment. »Ich habe einen Schlüssel. Ist es schlimm?«
»Es geht ihm wieder besser.« Davídsson hatte am Morgen einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen. Eine Krankenschwester hatte ihm gesagt, dass der Junge von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt worden war. Er wollte ihn wieder besuchen, nachdem er mit den Eltern gesprochen hatte.
»Wann kommen die Eltern wieder zurück?«
»Morgen. Wollen Sie jetzt in die Wohnung?«
»Nein, ich komme morgen wieder, oder können Sie die Eltern irgendwo erreichen?«
Sie schüttelte den Kopf, als sei er irgendwie locker.
»Wo sind Sie, Davídsson?«
Weitere Kostenlose Bücher