Mordlast
gab es das Íslendingabók, das Buch der Isländer, und das zweite Buch war das Landnámabók, das Buch der Landnahme. Beide waren vom gleichen Priester, Ari Þorgilsson, zu Beginn des zwölften Jahrhunderts geschrieben worden. Außerdem gab es Dutzende von Íslendingasögur, den Sagas, in denen man über das Leben Tausender von Isländern nachlesen konnte.
Der Lögsögumaður ergriff das Wort, nachdem er sich ein paarmal die Nase geputzt und dabei ohrenbetäubende Geräusche von sich gegeben hatte.
»Wie heißen Sie?«
Sie sah ihn mit einem festen Ausdruck in den Augen an.
»Okay. Ich erkläre Ihnen jetzt mal, wie das hier läuft. Sie sagen mir jetzt genau, was passiert ist, und ich lege für Sie ein gutes Wort ein. Vielleicht werden Sie dann ja nicht aus Deutschland abgeschoben, nachdem Sie Ihre Strafe abgesessen haben.« Er nahm das Päckchen mit den Taschentüchern und schob es zwischen seinen beiden großen Händen über den Tisch. »Sagen Sie nichts, wird der Haftrichter entscheiden, was mit Ihnen passiert, und ich habe keinen Einfluss mehr darauf, ob Sie nach Hause abgeschoben werden oder nicht.«
Sie verliert ihren Mut, dachte Davídsson, der es an ihren Augen ablesen konnte.
Er war nicht damit einverstanden, wie das Verhör lief, aber er wusste auch, dass das der Alltag war. Die Beschuldigten wurden unter Druck gesetzt, wenn sie nicht redeten. Jeder noch so kleine Nachteil wurde ausgenutzt und als verbale Waffe eingesetzt.
Vermutlich war das noch die geringste Form von Polizeigewalt. Oder das war es nur für einen Isländer, der so etwas nur von seiner Ausbildung in Amerika kannte. Bei ihm zu Hause waren die Verhöre jedenfalls im Vergleich dazu nur einfache Gespräche. Erst bei seiner Ausbildung hatte er gelernt, wie ein richtiges Verhör geführt wurde. Dagegen war das hier wiederum nur ein kleiner Plausch unter Freunden. Er suchte bei seinen Verhören nach dem goldenen Mittelweg, den es eigentlich nicht gab.
»Ich wollte doch nur den Schrott.« Ihre feste Stimme war geblieben. Sie hatte einen östlichen Akzent. Vielleicht kam sie tatsächlich aus Albanien.
»Das Kupfer. Sie wollten das Kupfer.«
»Ja.«
»Woher wussten Sie, dass die Regenrinnen einen hohen Kupferanteil haben?«
»Ich habe es gesehen.«
»Sie alleine?«
»Ja.«
»Falsch. Sie klauen nicht alleine. Wer war dabei? Ihre Söhne? Ihr Mann?«
»Ich war alleine.«
»Ja. Ja, natürlich. Sie tragen mit Ihrem Fliegengewicht eine ganze Regenrinne davon. Wie viel wiegt die? Hundert Kilo? Zweihundert?«
»Ich bin alleine.«
»Wer’s glaubt, wird selig. Ich habe Ihnen doch gesagt, wie das Spiel hier läuft. Reden oder gehen. So einfach ist das.«
Sie sah an ihm vorbei zur Tür, als könnte sie dort eine Antwort finden.
»Ich weiß nicht.«
»Gut. Das reicht mir.«
Ritter stand auf und verließ den Raum durch die Tür, durch die keine bessere Antwort gekommen war. Das Päckchen mit den Taschentüchern lag noch auf dem Tisch, auf den sie jetzt starrte.
Davídsson sah zur Seite, auf das Profil seines Chefs. Daneben saß Engbers. Der Tabakgeruch hatte längst den ganzen Raum eingenommen. Die drei anderen Kollegen saßen wortlos hinter ihnen.
Plötzlich kramte die Frau auf der anderen Seite ein Handy unter dem bunten Rock hervor. Sie hantierte einen Moment lang damit herum, bevor sie auf eine Schnellwahltaste drückte, während das Band weiterlief.
Sie sagte etwas. Es waren nur ein paar Worte in einer fremden Sprache. Dann verschwand das Telefon wieder unter dem Rock.
»Sie hat ihren Bruder angerufen und ihn gewarnt«, sagte die Kollegin in Uniform. »Das war Albanisch, wie wir vermutet hatten.«
Engbers hatte seine Kollegin in den letzten Minuten wiederholt angesehen und sie dabei intensiv gemustert.
Auf der anderen Seite wurde wieder die Tür geöffnet und Ritter ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Ólafur Davídsson war offenbar der Einzige, der nicht eingeweiht worden war. Er sah niemanden mit verwunderten Blicken auf seiner Seite der Scheibe.
»Ein kleiner Familienbetrieb also.«
Sie zuckte merklich zusammen. Man konnte zusehen, wie die Fassade bröckelte.
»Sie fahren also mit Ihrem Bruder nach Hause.«
»Nein! Ich kann nicht wieder zurück ins Kosovo.«
»Dann helfen Sie uns.«
Sie überlegte kurz.
»Kupfer ist wertvoll. Sehr wertvoll geworden. Sie geben uns viel Geld. Wir holen es und sie geben uns das Geld.«
»Wer gibt Ihnen Geld.«
»Ein Schrottplatz. In Wedding. Sie geben uns gutes Geld. Wir brauchen Geld.
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