Mordlast
erinnern.
Sie vereinbarten einen Termin für den Nachmittag.
Davídsson hatte in der Nacht kaum geschlafen. Weniger, weil er sich mit seiner Schwester bis weit nach Mitternacht unterhalten hatte. Es war eher die Hitze, die er auch nachts nicht mehr aus der Wohnung bekam. Auf den nächsten Sommer würde er sich mit einer Klimaanlage vorbereiten. Die Wohnung hatte zu viele Fenster für einen sonnigen Sommer und für einen Isländer, der die Kälte liebte.
Er hörte, wie Lovísa aus der Wanne stieg. Das Wasser plätscherte und dann folgte ein Gurgeln, das immer gieriger zu werden schien. Das Wasser war bald verschwunden und er konnte sich frisch machen.
Er brühte zwei Tassen seines Spezialkaffees auf und wartete, bis seine Schwester zu ihm nach unten ins Wohnzimmer kam. Bald würde er wieder alleine in seiner Wohnung sein. Er hatte es das letzte Mal als Befreiung empfunden, weil er die Ruhe vermisst hatte, als sie da war, und trotzdem war er auch traurig geworden. Es war ein seltsames Gefühl: Trauer und Befreiung in einem Moment.
Plötzlich wurde es still. Zu still. Die Ruhe, die er manchmal genoss und die er brauchte, um nachzudenken, wurde ihm so stark bewusst, wenn seine Schwester verschwand, dass sie ihn beinahe schon anbrüllte.
Sie kam die Treppe herunter und lächelte.
»Du fährst heute mit mir zum Flughafen? Mit der Bahn?«
Ólafur Davídsson nickte. Er hatte es ihr versprochen. Das machte es ihm leichter, die beiden Gefühle unter einen Hut zu bekommen.
Sie fuhren die wenigen Stationen mit der U-Bahn. In der Friedrichstraße stiegen sie um in den Schönefeld-Express.
Die Drehorgelmusik kündigte die nächste Station an: Treptower Park. Davídsson fand das Signal kitschig. Er hatte es bisher nur auf dieser Strecke gehört und er schämte sich jedes Mal dafür, dass die Menschen, die am Flughafen Schönefeld zum ersten Mal ankamen, diese alberne Musik als zweiten Eindruck von dieser Stadt mitbekamen. Drehorgelmusik im Zug.
»Hier arbeitest du doch, oder?«
Er nickte. Sie waren gerade einmal zweihundert Meter Luftlinie von seinem Büro entfernt. Er hatte es ihr gezeigt, als sie ihn das letzte Mal besucht hatte.
Die Bahn setzte sich wieder in Bewegung.
»Was ist jetzt mit dem Baby?«, fragte er. Sie hatten seither nicht mehr über dieses Thema gesprochen.
»Ich warte.« Sie sah aus dem Fenster. »Vielleicht sollte ich warten.«
Sie schwiegen und lauschten den regelmäßigen Fahrgeräuschen. Im Waggon hinter ihnen johlte eine Schulklasse in Lukas Alter.
»Hast du schon einmal an Rache gedacht?«
»Als Motiv?«
»Ja.« Sie sah immer noch nach draußen. Die Bäume in unmittelbarer Gleisnähe flogen an ihnen vorbei. Die Häuser, die weiter weg standen, bewegten sich langsamer.
»Wer sollte Rachegefühle gegenüber Bernd Propstmeyer gehabt haben?«
»Diese Frau, die ihn nicht bekommen konnte.«
Davídsson dachte nach. Seine Schwester schien ganz in diesen Fall vertieft zu sein.
»Ich hatte sie schon unter Verdacht. Aber sie war es nicht. Sie ist zu verquer in ihren Gedanken. Sie hätte einen anderen Ort gewählt, um ihn umzubringen. Nicht diesen Betonpilz. Sie hätte ihn auch nicht erwürgt. Das ist kein Mordinstrument für eine Frau.«
»Es gibt auch Ausnahmen.«
»Ja … natürlich. Aber Iris Schrauder ist … Sie ist zu weiblich dafür. Sie will eine vornehme Dame sein und nicht eine burschikose Freidenkerin. Sie hätte es anders gemacht.«
»Was hast du bisher?«
Er sah sie an. »Nichts. Das ist ja das Schlimme. Ich weiß sehr viel, aber nichts, was mich zu einem Täter führt. Es gibt zu viele Details und zu viele Lügen. Normalerweise hat man ein Opfer, über das man sich ein Bild macht. Ein Mord geschieht nur selten aus einem Zufall. Es gibt immer eine Verbindung zwischen Opfer und Täter. Ihre Leben haben sich irgendwo gekreuzt und diese Verbindung ist es dann, die ich finden muss. Hier gibt es zwei Opfer. Natürlich ist es nur eine Person, aber diese Person, Bernd Propstmeyer, hat zwei unterschiedliche Leben geführt. Wir haben noch nicht herausgefunden, welches Opfer der Täter treffen wollte.«
»Das alte Leben.« Seine Schwester sah ihn an.
»Du meinst, weil der Schwerbelastungskörper ein Relikt aus der Vergangenheit ist?«
»Ja, genau.«
»Aber über sein Leben in dieser Vergangenheit haben wir kaum etwas herausgefunden. Es gab keine Unterlagen in seiner Wohnung in den Ceciliengärten. Die Nachbarn wissen nichts über ihn. Ich glaube, diese Wohnung war nur dazu da, um
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