Mordlicht
Busbahnhofs der Stadt, die Fußgängern aus Richtung
Süden den Zugang zum Markt ermöglicht.
Zu dieser frühen Stunde, es war kurz nach sechs Uhr
und Sonnabend, war der Austieg allerdings verwaist. Bis auf Marie Grimm war
weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Die weißhaarige Frau mit dem
leicht nach vorn geneigten Gang zog einen Gepäcktrolley hinter sich her, in dem
sich Kleidung und Toilettenartikel befanden, die sie für einen kurzen Ausflug
zu ihrer Nichte in Mainz gepackt hatte. Es kam nicht mehr oft vor, dass sie auf
Reisen ging. Die Sorge, Anschlusszüge zu verpassen, den falschen Zug zu
besteigen oder sich in der Hektik des Reiseverkehrs zu verheddern, konnte auch
durch gutes Zureden nicht eliminiert werden. Doch nun war sie auf dem Weg
Richtung Bahnhof unterwegs, nachdem sie in der vergangenen Nacht kaum ein Auge
zugetan hatte. Mehrfach hatte sie ihr Reisegepäck auf Vollständigkeit
kontrolliert. Fest presste sie die unmodern wirkende Handtasche unter ihren Arm,
um nur nicht die Fahrkarte und ihre Ausweispapiere zu verlieren. Wenig Sorgen
machte sie sich dabei um die zweitausend Euro, die sie als kleine Unterstützung
für ihre Nichte gestern von der Bank abgehoben und ebenfalls in der Tasche
verstaut hatte.
»Wollen Sie das Geld nicht lieber überweisen, anstatt
es mit auf die Reise zu nehmen?«, hatte der freundliche junge Mann in der
Stadtsparkasse gefragt. Aber sie hatte es abgelehnt. Die Freude der Beschenkten
zu erleben, dabei zu sein, wenn die Glückliche die Geldscheine in Händen hielt,
das wollte sie sich nicht nehmen lassen. Eine unpersönliche Überweisung aufs
Konto – das hätte viel von dem Spaß, den auch sie bei dieser Schenkung hatte,
genommen.
Sie hatte die Brücke über die Husumer Au, einen
kleinen Bach, der im Binnenhafen mündete, überquert, und ein Lächeln überzog
ihr faltiges Gesicht, als sie sich die strahlenden Augen von ihrer Nichte und
deren Mann vorstellte. Die beiden hatten erst vor kurzem gebaut und konnten den
kleinen Zuschuss gut gebrauchen.
Leise war es um diese Zeit. Nur das Rattern der Räder
ihres Gepäcktrolleys durchdrang die morgendliche Stille. Die Büsche am Wegrand
hatten zum Teil schon das Laub abgeworfen, sodass man rechts die jetzt dunkle
Rückseite des lang gestreckten Gebäudes der Husumer Polizei erkennen konnte.
Links, hinter einem Maschendraht versteckt, lagen die Gärten der Rückseite der
Herzog-Adolf-Straße. Sie konnte nicht wissen, dass in einer der Wohnungen Große
Jäger dem Wochenende entgegenschlief.
Kurz nachdem sie den halb zugewachsenen schmalen
Durchgang zum Kreisgesundheitsamt passiert hatte, glaubte sie, aus dem dunklen
Nebenweg ein Geräusch gehört zu haben. Noch ehe sie sich umdrehen konnte, wurde
sie seitlich an der linken Schulter gepackt und mit einem kräftigen Stoß nach vorn
geschubst. Hätte sie sich nicht krampfhaft an ihrem Gepäcktrolley festgehalten,
wäre sie der Länge nach hingefallen. So aber konnte sie den Sturz vermeiden.
Noch im Stolpern bemerkte sie, wie jemand von hinten an ihrer Handtasche zog.
Sie verkrampfte ihren rechten Arm um die Tasche und hielt sie eisern fest, aber
der andere war kräftiger. Sie wollte schreien, war aber im ersten Moment starr
vor Entsetzen. Trotzdem umklammerte sie instinktiv ihre Handtasche. Erst als
der Unbekannte ausholte und ihr ins Gesicht schlug, ließ sie die Tasche los,
versuchte die Arme hochzureißen und sich vor weiteren Angriffen zu schützen.
Die blieben aus. Stattdessen griff sich der Räuber die Handtasche und
verschwand durch den zugewucherten Durchgang in Richtung des Gesundheitsamtes.
Marie Grimm spürte den salzigen Geschmack von Blut in
ihrem Mund. Mit dem Handrücken fuhr sie sich durchs Gesicht und besah sich die
Blutspuren. Dann sah sie sich um. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen.
Mühsam schleppte sie sich weiter, eisern ihren Trolley
hinter sich herziehend, um am Ende des Fußweges nach rechts in die
Poggenburgstraße einzubiegen und nach wenigen Schritten bei der Polizei zu
klingeln.
VIER
Das Wetter in
Nordfriesland ist oft launisch wie eine Diva. Nur auf eines ist Verlass: Zum
Wochenende regnet es. An beiden Tagen war es grau gewesen, und ein feiner
Nieselregen hatte den Aufenthalt im Freien verleidet.
Von Mommsens Jacke
tropfte es auf den Fußboden herab, und der zum Trocknen aufgeklappte Schirm war
mit Wasserperlen übersät.
Auf der Fensterbank
blubberte die Kaffeemaschine. Das sich im Raum verbreitende Aroma überdeckte
den zarten Duft des
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