Mordloch
anderen Büro heraus die Antwort: »Nein, bis jetzt nicht.«
Häberle stutzte. »Hat der denn keine Frau?«
Sein junger Kollege erschien am Türrahmen: »Doch – sagt zumindest Maile.« Und er ergänzte: »Eine rassige Blondine sei’s.«
»Hm«, der Chefermittler überlegte, lehnte sich in den Schreibtischsessel zurück und blickte aus dem Fenster zum Schlauchturm des angrenzenden Feuerwehr-Areals hinüber, »da verschwindet also der Mann und das Eheweib nimmt’s offenbar einfach so hin.«
»Wir wissen ja nicht, ob sie sein Verschwinden überhaupt bemerken konnte«, gab Linkohr zu bedenken, »vielleicht ist sie verreist.«
»Oder sie hat andere Gründe.« Der Kommissar erhob seinen voluminösen Körper, »wir fahren rauf. Schau’n wir uns die rassige Dame doch mal genauer an.«
In Gerstetten hatte man sich den Ausklang des Tages anders vorgestellt. Doch als die Dampfbahn zum zweiten Mal eingetroffen war, hatte sich der Himmel bereits mit dunklen Wolken verfinstert. Jetzt, nachdem der historische Zug die Stadt wieder verlassen hatte, sollte für die heimische Bevölkerung ein bunter Abend stattfinden. Auf einer Wiese unweit des Bahnhofs stand ein Festzelt, das annähernd 500 Personen Platz bot. Jetzt aber prasselte kräftiger Regen auf die Plane. Das schlechte Wetter und die plötzlich gesunkenen Temperaturen hielten offenbar viele Menschen davon ab, den Abend in dem Zelt zu verbringen. Nur zögernd füllten sich die Reihen an den Biertischen. Dabei war ein schwäbisch-humorvolles Programm angekündigt gewesen. Das weithin beliebte ›Kaos-Duo‹, das gestern Abend in der ›Oberen Roggenmühle‹ für Unterhaltung gesorgt hatte, wollte nun auch hier sein gesamtes Repertoire bieten.
Erst kurz vor 20 Uhr war Bürgermeister Pollatzky mit der Besucherzahl einigermaßen zufrieden. Er kletterte auf den mit Tannenreisig umgebenen Bühnenaufbau und trat an eines der beiden Mikrofone, die vor den Musikinstrumenten standen.
»Liebe Gäste«, begann er, »auch wenn’s noch so stürmt und regnet, wir Gerstetter lassen uns den Tag nicht vermiesen.« Er freute sich, dass noch weitere Menschen in das Zelt strömten. »Wir begrüßen deshalb das ›Kaos-Duo‹, das knochentrockenen schwäbischen Humor verspricht.« Die Zuschauer spendeten kräftig Beifall. Während der Redner auf die Bedeutung der Dampfzugfahrten für die Region einging und die Förderung des Fremdenverkehrs ansprach, bereiteten sich die beiden Musiker Hans-Ulrich Pohl und Marcel Schindling abseits der Bühne auf ihren Auftritt vor. Wochenenden, wie diese, waren eine echte Knochenarbeit. Ein Samstagsauftritt, der sich bis tief in die Nacht hinein zog – und dann am Sonntag dasselbe. Pohl fühlte sich ausgelaugt und müde. Sein Kollege hatte auch schon zweimal gegähnt.
Der Bürgermeister fand kein Ende. Er lobte das ehrenamtliche Engagement und sicherte den Dampfeisenbahnern jegliche Unterstützung zu, obwohl diese nichts davon hören konnten, weil sie längst ihren Lokschuppen in Amstetten erreicht hatten.
Pohl sah, wie sich an der zweiten Tischreihe ein Mann erhob, rückwärts über die Holzbank hinwegstieg und nach vorne kam – direkt auf ihn zu. Der Musiker stutzte. Mit wenigen Schritten stand der Unbekannte vor ihm. »Ich war gestern auch bei euch«, sagte er. Pohl sah in ein schlecht rasiertes Gesicht. »Haben Sie’s schon gehört – es hat einen Toten gegeben!?«
Der Musiker wurde bleich. Nur noch entfernt hörte er den Bürgermeister reden, der jetzt zu einem Ende zu kommen schien. »Der Flemming ist tot, Sie kennen ihn doch«, fuhr der Fremde fort. Pohl war nicht in der Lage, etwas zu antworten.
»Ermordet«, berichtete der Mann und senkte die Stimme, »ermordet – im Mordloch.«
»... das ›Kaos-Duo‹«, drang es plötzlich durch den Lautsprecher an Pohls Ohr. Das Stichwort. Der Auftritt. Er spürte, dass seine Knie weich geworden waren und er innerlich zu zittern begann. Fast wie in Zeitlupe stieg er die hölzernen Stufen zur Bühne hinauf. Sein Lächeln wirkte gekünstelt, sein Gesicht war fahl. Ohne die übliche, stimmengewaltige Ansage, steckte er das bereit liegende Kabel in seine Gitarre und setzte sich auf einen Schemel, während Marcel hinter seinem Schlagzeug Platz nahm. »I bin a Älbler ond brauch mei’ Alb«, sang er so gut es ging. Ich bin ein Älbler und brauch’ meine Alb. Wie schnell konnte ein Idyll zerstört sein, dachte er – und sang weiter. Immer weiter. Das Publikum applaudierte begeistert.
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