MORDMETHODEN
äußerte: »Wenn er’s getan hat, verdrängt er die Tat. Er hat sich immer gegen alles Bedrohliche abgeschottet, auch wenn es von ihm selbst ausging. Ich weiß, dass er ihren Tod schon früher einmal in Erwägung gezogen hat. Als ich von dem Verbrechen hörte, dachte ich: Jetzt hat er, was er wollte.«
Viele Menschen würden diese Aussage gegen den Angeklagtenauslegen. Doch warum soll die Vermutung seiner Geliebten mehr wert sein als die Unschuldsbehauptung des Geistlichen?
Will man als FallbearbeiterIn einen klaren Blick bewahren, können persönliche Aussagen daher nur ein winziges Mosaiksteinchen im Gesamtbild darstellen. Wenn es wissenschaftlich einwandfreie Sachbeweise gibt, kann es manchmal sogar besser sein, alle Meinungen komplett zu vergessen. Denn was an ihnen wahr ist oder nicht, lässt sich oft nur schwer beurteilen.
Die Konzentration auf Sachbeweise kann der Jury manch schlaflose Nacht ersparen. Denn der Richter ist der Einzige, der Meinungen und Charakterbilder berücksichtigen sollte und zuletzt entweder das Strafmaß festlegt (USA) oder gar über den gesamten Fall entscheidet (Zentraleuropa).
Doch nicht nur Meinungen, auch scheinbar direkte Beobachtungen von Zeugen sind durch Nachdenken oft nicht überprüfbar. Der Fall Manuela Schneider gibt dafür mehrere Beispiele: Selbst Kindern gelang es, die Ermittler mit erfundenen Aussagen in die Irre zu führen.
Auch im Fall Geyer gab es eine eindrucksvolle Szene dieser Art. Ein Zeuge sagte aus, den Pastor zum vermuteten Zeitpunkt der Tötung in der Nähe des Leichenfundortes seiner Frau gesehen zu haben. Die Berliner Zeitung schrieb dazu:
»Über die vielen ›Wiedererkennungs-Zeugen‹, die den Pastor an diesem Tag mal mit, mal ohne Frau gesehen haben wollen, sagt Anwalt Börner [Geyers Strafverteidiger; M. B.]: ›Keiner hat etwas bewusst falsch ausgesagt.‹ Aber bei der Identifizierung wurden ihnen nur Fotos der Eheleute Geyer vorgelegt. Ihre Erinnerungen wurden immer präziser, je mehr über den Fall berichtet wurde.
Der Zeuge, der den Pastor am Tatort gesehen haben will und den die Staatsanwaltschaft für ›besonders glaubhaft‹ gehalten hat, wollte innerhalb von zwei Sekunden eine solche Kette von Beobachtungen gemacht haben, ›das schafft selbst ein Wahrnehmungsgenie nicht‹, glaubt der Verteidiger.«
Vielleicht irrt sich der Verteidiger aber, und der Zeuge hat doch genau aufgepasst. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ergänzt in diesem Sinn:
»Ein 56 Jahre alter Pharmareferent sagte aus, er habe Geyer am Tag des Verschwindens von Frau Geyer-Iwand in der Nähe des Orts gesehen, an dem zwei Tage später der Leichnam gefunden wurde. Ihm sei im Vorbeifahren ein roter Volkswagen-Kombi aufgefallen, der rückwärts in einem Seitenweg abgestellt war. Als Jäger habe er nach einem Bekannten Ausschau gehalten. Gesehen habe er jedoch einen Unbekannten mit Stirnglatze, ›der mich auf eine Weise anschaute, die mich betroffen machte‹.
Er habe sofort den Eindruck gewonnen, sagte der Zeuge weiter, ›dass der Mann hochgradig unter Spannung stand‹. In den höchstens zwei Sekunden, in denen er seine Beobachtung aus dem Autofenster heraus gemacht habe, habe er den hinter dem Wagen stehenden Mann auch im Profil gesehen.
Der Polizei gegenüber hatte der Zeuge zunächst angegeben, er sei sich nicht sicher, ob er den Mann identifizieren könne. Bei der Gegenüberstellung, zu der es erst sechs Wochen später kam, war er sich dann jedoch sicher, Geyer unter sieben ähnlich aussehenden Personen wiedererkannt zu haben.«
Das Problem, gute von schlechten ZeugInnen und JurorInnen zu unterscheiden, beschäftigt auch Psychologen. Die jüngsten Ergebnisse stammen von einer Forschergruppe der Cornell University. Es war schon länger bekannt, dass selbst deutliche Mahnungen nichts nutzen, um eine Jury zu Offenheit und Neutralität zu bringen. Die Psychologen der Universität konnten nun zeigen, dass sogar wiederholte Aufforderungen, man möge bitte nur die Fakten gegeneinander abwägen, recht fruchtlos blieben. Wie im ersten Prozess gegen O. J. Simpson standen die Urteile der Juroren in der Regel schon vor der Verhandlung fest.
Im normalen Leben ist es übrigens oft in Ordnung, eher an bereits Gelerntes zu glauben, als stets nur Fakten abzuwägenund Gerechtigkeit zu suchen. Sonst würde es uns kaum möglich sein, in kurzer Zeit Entscheidungen zu treffen. Da in einem Gerichtsverfahren aber andere Regeln gelten als beim Einkaufen, Tratschen und Autofahren,
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