Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
stecken lassen.
Nachdem Martin Sonnleitner mit Bettermanns Koffer und zwei Jutetaschen abgezogen war, bat Gabriel auch die Hausherrin, ihn einen Moment allein zu lassen und inzwischen schon einmal den jungen Oliver zur Befragung ins Kaminzimmer zu bitten. Er wollte die Atmosphäre des Raums und auch den Blick aus dem Fenster noch einen Mo ment auf sich wirken lassen und dabei versuchen, sich in Bettermann einzufühlen, falls das überhaupt gelingen konnte bei einem Mann, über den er nicht viel wusste. Er hatte von ihm bislang nicht einmal ein Foto neueren Datums gesehen.
»Ich spüre, wir verstehen uns, Herr Kommissar«, sagte die Gräfin. »Mir scheint, auch Sie haben eine hellsichtige Ader.«
Gabriel ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, denn ›hellsichtig‹ war nun nicht gerade eine Eigenschaft, die er für sich reklamiert hätte. Plötzlich schaute die Frau, die ihn eben noch charmant angelächelt hatte, mit strengem Blick an ihm vorbei zur Tür.
»Lass uns in Ruhe, Konrad«, sagte sie. »Dein … Ableben ist bei dem Herrn Kommissar in besten Händen. Du wirst hier nicht mehr gebraucht, hörst du! Deine Aufgabe ist jetzt, deinen eigenen Frieden zu finden.«
Mit starrem Gesicht ging sie an Gabriel vorbei, wobei sie mit den Händen wedelte, als wollte sie ein unwillkommenes Tier verscheuchen, einen größeren Vogel etwa. Sie drehte sich nicht zu Gabriel um, als sie im Hinausgehen sagte: »Keine Sorge, Herr Kommissar, er wird Sie nicht weiter behelligen. Dafür sorge ich schon.«
Mit diesen Worten zog sie die Tür hinter sich zu und ließ einen verblüfften Kommissar allein in Konrad Bettermanns Zimmer zurück.
5.
Nachdem Wolf Gabriel die Personalien der ersten sechs Bewohner der Villa Undine aufgenommen und sie über den Ermordeten sowie ihre Beziehungen zu ihm ausgefragt hatte, bat er um einen Tee. Ihm schwirrte der Kopf. Schon jetzt konnte er nicht mehr alle Geschichten rekonstruieren, sondern verwechselte die Details, vor allem im Hinblick auf die früheren Reinkarnationen der einzelnen Befragten. Er hatte es hier tatsächlich nicht nur mit den aktuell im Haus lebenden Personen zu tun, sondern auch noch mit Gott-weiß-welchen Personen aus Gott-weiß-welchen Zeiten, mit denen sie sich identifizierten.
Gleich der Erste, den er befragt hatte, der depressive Oliver Niewöhner, hatte ihn überrascht, indem er sich als der Junge zu erkennen gab, dem sich alle Jubeljahre der Drache vom Würmsee zeigte. Gabriel brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es sich bei ›Würmsee‹ um einen alten Namen für den Starnberger See handelte. Mit den Todesfällen der beiden Brüder 1914 – Gabriel fasste sich ein Herz und wagte es, den jungen Mann direkt danach zu fragen – hatte er nichts zu tun; seine Rückführung hatte ihm die Augen für weiter zurückliegende Zeiten geöffnet.
Als Nächstes war die Wandersfrau hereinmarschiert. Ilse Müller wusste allerlei Interessantes über den jungen Niewöhner zu berichten. Angeblich verbrachte er die Nächte gern draußen mit Blick auf den See, sei es auf einer Bank im Garten oder auch unten auf dem Bootssteg direkt am Ufer. Dort wartete er geduldig, dass der Drache sich zeigte. »Und dann kifft er sich eins. Aber verpetzen Sie ihn nicht bei Goschi – und mich nicht bei ihm. Alle denken, er mache hier einen Entzug – und dass er ihn durchhält.«
Woher sie ihre Informationen hatte, wollte sie zunächst nicht verraten, aber schließlich gestand sie, dass sie mondsüchtig sei. »Aber nicht so, wie Sie denken, Herr Kommissar. Ich … nun ja, ich bade gern im Mondschein. Es gibt schlimmere Laster, finden Sie nicht?«
Bei der Vorstellung hatte Gabriel, ohne es zu wollen, wohl belustigt geguckt. Plötzlich kicherte Ilse Müller: »Ich glaube, der junge Niewöhner hat mich für den Drachen gehalten, als er mich das erste Mal zufällig sah. Armes Bürschchen. Wenn ich ihn doch nur überreden könnte, mit mir zu wandern, das würde ihn von seiner Sucht und seinen Depressionen kurieren, meinen Sie nicht?«
Wolf Gabriel hatte sich die Bemerkung verkniffen, dass es einen labilen Menschen vielleicht noch tiefer in die Depression treiben könnte, wenn er dieser Frau mit ihren Wanderstöcken hinterherlaufen oder gar des Nachts mit ihr ins kalte Wasser springen müsste. Stattdessen bedankte er sich für ihre Freimütigkeit und bat den nächsten Bewohner in den Kaminraum.
Die drei Wilden Weiber vom See erschienen zwar einzeln und nacheinander bei ihm, aber sobald eine
Weitere Kostenlose Bücher