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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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Restaurants und Reklamen hinter ihm. Je weiter er kam, desto ruhiger wurde es. Die Straße wurde lebloser, die Bebauung spärlicher. Einige Häuser waren unbeleuchtet und schienen verlassen. Wenige Straßenlaternen verbreiteten ein spärliches Licht. Nur die Verkehrsgeräusche von der Uferstraße erinnerten ihn noch an die Welt, die er gerade verlassen hatte. Er beschleunigte seine Schritte. Am Fuß der Escalier du Cap-Blanc angekommen, atmete er schwer. Unter der Laterne zum Aufgang hielt er an und horchte in sich hinein. Irgendwo hinter sich in der Dunkelheit hörte er Schritte. Ihm war nicht wohl. Das gefiel ihm nicht. Hastig nahm er den Aufstieg in Angriff. Auf der ersten Plattform pausierte er und rang nach Luft. Das Licht der Laterne hatte er längst hinter sich gelassen. Weiter oben sah er auf der Hälfte des Anstiegs eine zweite Laterne, ganz oben eine dritte. Die Entfernungen machten ihn mutlos. Hatte er sich zu viel vorgenommen? Sei ehrlich zu dir selbst, ermahnte er sich. Was machst du hier eigentlich? Was denkst du? Was willst du?
     
    *
     
    Er hatte Angst. Sie hatte von ihm Besitz ergriffen wie eine fiebrige Krankheit, gegen die er keine Medizin hatte und der er sich hilflos ausgeliefert sah. Sie hatte seine Füße schneller gemacht, seine Muskeln angespannt, seinen Puls erhöht und in seinem Kopf ein wildes Chaos ausgelöst. War er nicht schon immer ein Hasenfuß und Feigling gewesen? Waren das nicht überhaupt die Gründe, die ihn in die starken Arme der Polizei getrieben hatten? War sein Eintreten für Recht und Gerechtigkeit, für Ordnung und Rechtsstaat nicht nur Ablenkung von Trieben, die er verachtete und einfach nicht wahrhaben wollte? Woher kam diese fiebrige Panik? War die Quelle eine traumatische Kindheit oder etwa die abgesunkenen Überbleibsel archaischer Leben davor? Drehte er hier grundlos durch oder hatte sein Zustand tatsächlich einen Bezug zur Gegenwart? War sein Leben hier und jetzt bedroht oder war er nur der Hampelmann seiner unglücklichen Natur?
    Tomi!, ermahnte er sich, hör auf, mach Schluss mit dem Wahnsinn. Konzentriere dich. Gebrauche deine Sinne. Was wollen sie dir sagen?
    Er blieb stehen und stützte sich auf das Geländer. Was sah er? Gerade mal seine Füße und die nächsten Stufen, ansonsten so gut wie nichts. Die paar Laternen warfen nur ein spärliches, fahles Licht auf die Bohlen. Rechts und links verschwammen die Schatten der Bäume an den Hängen mit dem dunklen Hintergrund. Am Himmel funkelten Sterne. Ihr Licht war zu schwach, um ihm wirklich zu helfen. Er roch Laub und Baumharz. Er hörte sein Herz pochen und seinen keuchenden Atem. Hör genauer hin, befahl er sich. War da noch mehr? Er hielt den Atem an und lauschte in die Nacht. Ja, hinter ihm, weiter unten, hörte er ein fremdes Geräusch. Es war schwach, eine Art Schlurfen wie von schleppenden Tritten. Er versuchte, seinen Herzschlag und seinen Atem zu kontrollieren. Ja, da war es wieder, entfernt, aber doch deutlich. Jetzt brach es ab. Er wartete und lauschte angestrengt. Nichts. Er befahl sich, so schnell wie möglich die Laterne am Ende der Treppe zu erreichen. Wie viel Stufen waren es bis dahin? 150, 100? Hatte er ausreichend Kräfte?
    Hör auf zu denken, ermahnte er sich noch einmal, gehorche deinen Sinnen. Er zwang sich zu bleiben, wo er war. Er lauschte angespannt in die Dunkelheit. Vom Strom her schwebten gedämpfte Verkehrsgeräusche herüber. Kein verräterischer Laut drang an sein Ohr. Sein Herz schlug jetzt ruhiger und sein Atem ging regelmäßiger. Ein neues, befremdliches Gefühl erfasste ihn. Ihm war, als sei er auf dem Kriegspfad. Er vermisste seine Waffe. Er würde von ihr Gebrauch machen, ohne zu zögern, ohne Skrupel, jetzt, hier, sofort und bedenkenlos. Seine Entschlossenheit war ihm fremd, aber er begrüßte sie wie einen lang vermissten Freund. Er verfluchte die Tatsache, dass seine Dienstwaffe unerreichbar in Deutschland lag. Gab es eine Alternative? In der herrschenden Dunkelheit konnte er in seiner Umgebung nichts ausmachen, was ihm seinem Wunsch nähergebracht hätte. Oben, unter dem Licht der Lampe, wartete vielleicht eine Chance. Behutsam setzte er sich in Bewegung, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Zwischendurch hielt er an und lauschte angespannt. Da waren sie wieder, die schleppenden Laute unter ihm. Er atmete verhalten. Sein Herz klopfte leise. Plötzlich drang ein rhythmisches Tapsen an sein Ohr. Er spannte seine Sinne bis aufs Äußerste an. Jetzt setzte das Geräusch

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