Mordsee
bei ihm ein. Das Gefühl, das ihn erfasste, war ihm angenehm.
Erster Tag
Jung hatte unruhig geschlafen. Vor dem Aufwachen träumte er, zu einem Seminar nach Oberbayern eingeladen worden zu sein. Das Tagungshotel im Stil eines reichen Alpenhofes lag an einem idyllischen Bergsee. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen voll üppig blühender rot-weißer Geranien. Seine Schüler waren wach und aufmerksam. Sie hingen an seinen Lippen. Nach der Mittagspause hatten sie sich pünktlich und ausnahmslos wieder eingefunden. Ihr auffälliges Interesse stachelte ihn an und machte ihn gleichzeitig verlegen.
Abends ging er runter zum Essen in die große Gaststube. Die mit rot-weiß karierten Tüchern eingedeckten Tische waren verwaist. Das Personal schien gestorben. Die gespenstische Stille versetzte ihn in Angst und Schrecken. Er eilte nach draußen in den kleinen Kurort. In den Gassen tummelten sich Menschen, die alle unter Drogen zu stehen schienen. Hier und dort erblickte er in der Menge ein bekanntes Gesicht. Sie lachten ausschweifend und warfen ihm anzügliche Blicke zu. Er versuchte umzukehren und fand sich wieder unter ekstatisch aufgeladenen, halb entblößten Weibern und geilen Kerlen. Er kam sich vor wie in einem Freiluftbordell. Der wilde Strom packte ihn, und er drohte in den reißenden Strudeln unterzugehen. Kurz bevor es ernst wurde, wachte er schweißgebadet auf. Erst unter der Dusche wurde er wirklich wach und schüttelte die Reste seines Traumes ab wie ein Hund das Wasser aus dem Fell. Übellaunig kleidete er sich an.
*
Beim Frühstück sah er Charlotte schon von Weitem an ihrem Tisch sitzen. Er häufte sich Obst auf den Teller und griff sich eine Kanne Kaffee.
»Wenn ich die fettigen Würstchen sehe, wird mir schlecht. Guten Morgen, Bakkens.«
»Guten Morgen, Chef. Schlecht geschlafen?«
»Schlecht geträumt.«
»Wegen gestern Nacht?«
»Nee, nee«, winkte Jung fahrig ab. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie gut geschlafen?«
»Ja«, entgegnete sie einsilbig.
»Was haben Sie gestern herausgefunden?«, kam Jung übergangslos zur Sache.
»Nicht viel, das uns weiterbringt. Leider.«
»Haben Sie den ganzen Nachmittag bei den Vernehmungen verbracht?«
»Ja. Ich habe aber nicht zugehört.«
»Warum?«
»Weil ich die Akte noch einmal intensiv durchgegangen bin. In Hinblick auf ein mögliches Verbrechen. Das schien mir sinnvoller.«
Charlotte hatte, während sie erzählte, eine Apfelsine gepellt. Jung sah ihr aufmerksam zu, wie sie die Frucht sauber in einzelne Schnitze zerlegte und in den Mund schob.
»Schade, dass Sie nichts gefunden haben«, bemerkte Jung resigniert.
»Habe ich doch. Nur nicht das, wonach ich gesucht habe.«
»Inwiefern?«
»Ich habe gelernt, dass die Art zu fragen die Antworten bestimmt. Meine erste Einschätzung wundert mich nicht.«
»Ja, richtig. Wenn man gezielt fragt, verpasst man das Abseitige.«
»Genau. Die meisten Aussagen sind für Ihre Hypothese wertlos. Außerdem sind die Befragungen kurz gewesen. Viel ist da nicht rauszuholen. Nur bei zweien habe ich den Eindruck, als schwinge etwas von Nähe zu der Toten mit. Nicht gerade positiv.«
»Nicht positiv? Wie meinen Sie das?«
»Eine Ina hat anklingen lassen, dass die Tote persönlichen Belastungen ausgesetzt war. Ihre Aussage klang nicht sehr einfühlsam, mehr so, als müsse man sich nicht wundern, dass ihr was passiert ist.«
»Zu diesem Schluss sind die Staatsanwälte ja auch gekommen.«
»Ja, aber die Sprache fällt auf. Mir scheint, als wäre da ein Hauch von Häme oder Schadenfreude im Spiel. Das deutet auf was Privates. Könnte sein, dass sie nicht gut auf die Tote zu sprechen war.«
»Und die andere?«
»War ein Er. Ein Matrose namens Bastian.«
»Der Rudergänger auf Toilettengang?«
»Genau der. Er hat sich über die Tote und deren Fähigkeiten, ich will nicht sagen abfällig, aber doch auffällig distanziert geäußert. Mein Eindruck ist, dass da Gefühle im Spiel sind.«
»Negative«, warf Jung leise ein und steckte sich ein Stück geschälten Apfel in den Mund.
»Ich würde sagen, Gefühle, an die er nicht gern erinnert werden will.«
Jung schwieg und sortierte lustlos ein paar angefaulte Beeren aus.
»Vielleicht war er einer ihrer abgelegten Liebhaber. Kein Mann mag das.« Jung legte eine Pause ein und rieb sich die Augen. »Aber das ist alles Spekulation«, fuhr er leise fort. »Konkret gibt es Folgendes: Mein Gewährsmann kann den Obduktionsbericht und die Liste der Hinterlassenschaften
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