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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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Stammbesatzung würde ich auch suchen.«
    »Ja. Wo fangen wir an, Chef?«
    »Das ist die entscheidende Frage. Was sagt Ihnen Ihre Intuition, Charlotte?«
    »Der Täter muss sie abgrundtief gehasst haben.«
    »Ja, etwas in der Richtung. Anders ausgedrückt: Sie muss einen vermeintlichen Täter derart schmerzlich berührt haben, dass er es nicht ausgehalten und die Kontrolle verloren hat.«
    Jung lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Wo könnten wir ihn finden? Wo müssten wir zuerst suchen?«, murmelte er.
    »Wir sollten loslegen und abwarten, was kommt«, sagte Charlotte bestimmt.
    »Ein bisschen genauer, Bakkens.« Jung beugte sich wieder nach vorn. »Was tue ich, und was tun Sie ?« Er sah Charlotte in die Augen.
    »Ich weiß es und Sie auch«, erwiderte sie.
    »Sie gehen jetzt zu den Staatsanwälten.«
    »Genau, Chef. Wann sehe ich Sie wieder?«
    »Morgen zum Frühstück. Dann weiß ich mehr.«
    »Ich auch. Versprochen.«
    »Bis dann, Charlotte.«
    »Bis dann, Chef.«

Nachtspaziergang
     
    Es war spät geworden. Die Telefonate hatten sich in die Länge gezogen. Den Gedanken an die nächste Handyrechnung verdrängte er. Am späten Nachmittag hatte er noch einmal bei den Staatsanwälten vorbeigeschaut. Sie machten unverdrossen weiter, wie sie am Vormittag begonnen hatten. Er war nicht überrascht. Eigentlich wollte er den Kapitän auch nur um einen Flyer von Québec bitten.
    Eine unterschwellige Unruhe hatte ihn erfasst. Der Grund dafür waren nicht die aufgeworfenen Fragen, das spürte er deutlich. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Ordnung in seine Gedanken und Gefühle bringen.
    Er fluchte leise vor sich hin und überflog, an die Reling gelehnt, den Stadtplan von Québec. Die Escalier du Cap-Blanc war nicht schwer zu finden. Der Weg über die Treppe ins Hotel schien ihm lang. Aber ein ausgedehnter Spaziergang würde ihm gerade jetzt guttun, sagte er sich und dachte beschämt an Charlotte und ihr ehrgeiziges Fitnessprogramm.
    Als er das Schiff verließ und dem Hafenausgang zustrebte, begann es bereits zu dämmern. Am Ende der Pier kam er an einen kleinen Platz, auf dem Kinder spielten und deren weibliche Aufsicht es sich auf den Bänken unter gestutzten Platanen bequem gemacht hatte. Er blieb stehen und sah sich noch einmal um. Neben den beiden Kreuzfahrtschiffen und vor den gigantischen Getreidesilos nahm sich das Segelschiff filigran und zerbrechlich aus. Eine Gruppe Kadetten kam das Fallreep hinunter wie eine Horde Schüler auf Klassenfahrt. Hinter ihnen verließ auch der Steward das Schiff. Neben den Jünglingen wirkte seine hoch aufgeschossene, kantige Gestalt wie ein Fossil aus einer exotischen Welt. Jung wandte sich ab und schritt rasch die Straße hinunter in Richtung Vieux-Québec.
    Sein Weg führte ihn durch das Quartier Petit Champlain. Der Flyer hatte ihm verraten, dass ihn hier ein touristisches Highlight von Québec erwartete: ›Prenez part à la fête!‹, ›Trouvailles irrésistibles‹, ›Créations signées‹, ›Mode exklusive‹, ›Restez à manger‹! Das Gewühl auf den Straßen und Gassen war groß, aber nicht anregend genug, ihn aus seiner dumpfen Beklommenheit zu befreien. Er hielt nach einem einladenden Restaurant Ausschau. Der Anblick der überfüllten, auf folkloristische Historie getrimmten Etablissements ließ ihn immer tiefer in seine düstere Stimmung versinken.
    Schließlich hatte er einen Aufzug erspäht, der ihn hinauf in die Oberstadt zur Terrasse Dufferin führte. In Sichtweite des Chateau Frontenac fand er, was er suchte. Er setzte sich vor einer Auberge an einen freien Tisch und bestellte ein Glas Riesling. Er hoffte, der Wein aus der Provinz Ontario würde ihm helfen, sich besser zu fühlen. Er schmeckte ihm. Aber auch ein zweites Glas heiterte ihn nicht auf. Sogar die witzigen Schauspieler, die gegenüber auf der Place d’Armes ihre zahlreiche Zuhörerschaft mit Späßen und Clownerien unterhielten, ließen ihn unberührt. In der begeisterten Menge erkannte er einige Gesichter vom Schiff, darunter auch den Steward. Er lachte nicht. Es schien Jung, als weinte er.
     
    *
     
    Er hatte genug. Um sein Unwohlsein abzuschütteln, blieb tatsächlich nur Bewegung übrig, gestand er sich ein. Es war inzwischen dunkel geworden. Jung ließ sich davon nicht abhalten und setzte sich entschlossen in Marsch. Zurück in der Unterstadt, lenkte er seine Schritte entlang des Stroms in Richtung Cap Blanc. Bald verschwanden die grellen Lichter der Geschäfte,

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