Mordsee
beschaffen. Er hofft, noch heute. Ich gebe Ihnen seine E-Mail-Adresse.« Jung zog einen Zettel aus der Brusttasche und schob ihn Charlotte zu. »Mailen Sie ihn an. Er schickt uns dann, sobald er kann, Fotokopien. Er hat auch die Eltern ausfindig gemacht. Sie leben in Flensburg. Er sieht die Dokumente durch und befragt die Eltern. Wir telefonieren, wenn er etwas weiß. Er ist gut. Sehr diskret. Ich kann mich auf ihn verlassen. Danach setzen wir uns zusammen.« Jung trank seine Tasse leer und stellte sie mit einer müden Geste zurück auf den Tisch. Der Kaffee war dünn.
»Was ist mit Facebook und Co?«, fragte er abgelenkt.
»Ich habe etwas über sie auf der Gorch-Fock-Seite gefunden. Für sie ist so eine Art Erinnerungs- und Kondolenzbuch eingerichtet worden. Wer will, kann da seinen Kommentar posten.«
»Und?«
»Neben den Klugscheißern, die zu allem und jedem ihren Senf beisteuern, sind die Beiträge im Großen und Ganzen ähnlich wie die Erzählungen der Kadettin im Flugzeug. Mit einer Ausnahme. Eine Suzi glaubt, dass ein Mann nachgeholfen haben könnte. Sie kann aber keinen Beweis für ihren Verdacht anführen.«
»Also nichts wirklich Neues!«
»Sehe ich so. Ja.«
»Okay. Dann warten wir auf meinen Mann aus Flensburg.«
»Ich schicke ihm eine Mail mit der Adresse. Bin gespannt, was daraus wird.« Charlotte nahm den Zettel an sich und lehnte sich zurück.
*
»Beim Aufwachen fiel mir übrigens der Name der Krankheit wieder ein«, wechselte sie das Thema. »Die verkrümmten Finger des Stewards. Sie erinnern sich? Ich machte Sie darauf aufmerksam.«
»Ja, richtig. Die einzige Abnormität in dem Fall. Und? Wie heißt sie?«
»Dupuytren’sche Kontraktur. Sie führt zu einer fortschreitenden Einschränkung der Fingerbeweglichkeit.«
»Okay. Sie wissen ja mächtig Bescheid. Haben Sie noch mehr auf Lager?«, kommentierte er ihr Wissen mit freundlicher Ironie.
»Das ist wirklich interessant, Chef. Ich kann … «
»… einen Vortrag halten?«, unterbrach sie Jung, nachsichtig lächelnd.
»Krankheiten sagen eine Menge über die Menschen aus, Chef«, zeigte sich Charlotte unbeeindruckt. »Es würde mich zum Beispiel nicht wundern, wenn Sie öfter Kopfschmerzen haben. Haben Sie?«
»Wie kommen Sie darauf?« Jung zog die Augenbrauen zusammen und sah sie interessiert hat. »Kommt schon vor. Wieso?«
»Wer unter Kopfschmerzen leidet, zerbricht sich den Kopf. Er hat zu viel Ehrgeiz und will unbedingt perfekt sein. Auch sein problematisches Sexleben verdient Beachtung.«
»Mein Sexleben geht Sie einen Scheißdreck an!«, fuhr Jung sie an. »Kümmern Sie sich um Ihr eigenes. Das reicht vollständig.«
»Warum regen Sie sich so auf? Haben Sie einen Grund?«
»Ich und Ehrgeiz! Ein Beamter, der sich mit Fällen herumschlägt, die keiner haben will? Das glauben Sie doch wohl nicht im Ernst. Und Perfektion! Das müssen Sie mit Ihrem Fitnesswahn mir gerade sagen. Mein Gott!« Er winkte genervt ab.
»Sie sollten sich fragen«, fuhr Charlotte unbeirrt fort, »ob Sie nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Handeln würde Ihnen zur Abwechslung besser bekommen als immerzu nachzudenken.«
»Wenn ich gestern gehandelt hätte«, erwiderte Jung erregt, »lägen Sie jetzt im Krankenhaus. Hätte ich meine Dienstwaffe dabeigehabt, wären Sie vielleicht tot. Eine einzige Katastrophe!«
»Wenn Sie das so sehen wollen, bitte. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken, Chef.«
»Sollte ich damit nicht aufhören? Sie sind ganz schön naseweis, wissen Sie das?«
»Ich komme frisch von der Hochschule. Ich weiß nicht, welche Schule Sie besucht haben. Wann war das?«
Jung schüttelte unwillig den Kopf, füllte seine Tasse aus der auf dem Tisch stehenden Kanne und trank.
»Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann vielleicht Oscar Wilde«, setzte Charlotte nach.
»Was wissen Sie denn schon von Oscar Wilde? War er Thema auf Ihrer Polizeihochschule?« Jung stieß einen sarkastischen Lacher aus.
Charlotte sah ihn mitleidig an und bemerkte dann trocken: »›Denken ist wundervoll, aber noch wundervoller ist das Erlebnis‹, sagt Oscar Wilde.«
Jung rollte mit den Augen. Er wollte nichts mehr davon hören. Charlotte blieb hartnäckig.
»Gestern fühlten Sie sich von dem Steward verfolgt. Wollen Sie nicht mehr über ihn wissen?«
Jung ließ sich Zeit. Dann stellte er unter Stöhnen seine Kaffeetasse zurück. »Gestern war mir nicht gut. Vielleicht habe ich überreagiert. Dennoch stimmt etwas nicht mit ihm. Zugegeben,
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