Mordsee
die doch bestimmt wissen. Ich weiß das nicht.«
»Nee, das wissen die auch nicht.«
»Okay. Und wie könnte das gehen?«, fragte Charlotte interessiert.
»Wir segeln 2012 eine Regatta von England nach Neufundland. Anlässlich des 100. Jahrestages des Untergangs der Titanic. International besetzt. Die Krusenstern, Christian Radich, Sedow, alle sind sie dabei. Ich habe zwei Gästekojen zu vergeben.«
»Klingt verlockend. Ich will aber nicht ertrinken.«
»Warum sollten Sie?«
»Damals hat’s die Titanic erwischt und zwei von Ihnen jetzt.«
»Ja, aber Sie doch nicht. Außerdem haben wir heutzutage ganz andere Möglichkeiten. Eisberge sind für uns ein Erlebnis, keine Bedrohung.«
»Wer weiß. Der ertrunkene Matrose geht mir immer wieder im Kopf herum.«
»Sie war Kadettin«, erwiderte der Kapitän.
»Ich meine den Matrosen, der ins Hafenbecken gefallen ist.«
»Ach so. Ja, das ist wirklich tragisch. Armer Erwin. Sein einziger Sohn.«
»Genau das will mir nicht einleuchten. Er kann doch schwimmen. Der Hafen ist nicht die offene See.«
»Ja, wenn er zu uns kommen wollte, musste er schwimmen können. Das ist schon richtig. Aber ich kenne die näheren Umstände nicht.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Wassertemperatur kann eine Rolle gespielt haben, die Kleidung, ein Krampf. Vielleicht hat er sich verletzt, vielleicht Wasser in die Atemwege bekommen. Es gibt Gründe genug.«
»Sie erwähnten Alkohol.«
»Dazu kann ich nichts sagen. Mir fällt das automatisch ein, wenn ich an Jugendliche und Freizeit denke.«
»Gibt es eigentlich einen Untersuchungsbericht?«
»Das müssten Sie doch besser wissen als ich.«
»Weiß ich aber nicht. Noch nicht.«
Sie hatten ihre Unterhaltung das eine oder andere Mal unterbrochen und die Aussicht auf den Strom genossen. Der Schiffsverkehr war rege. Der Kapitän gab kritische Kommentare zu den Schiffen und ihrer Ladung ab. Die Zeit war darüber schnell vergangen. Charlotte spürte, dass es ihm Spaß machte, in ihrer Begleitung zu laufen. Ihr Puls war erhöht, aber sie waren noch weit davon entfernt, ins Schwitzen zu kommen. Am Fuß der Escalier du Cap-Blanc angelangt, blickte Charlotte die Treppe hinauf.
»Schaffen Sie das?«, fragte sie den Kapitän.
»Ich versuche es. Wenn nicht, was machen wir dann?«
»Sie laufen zurück zum Schiff und ich in mein Hotel. Auf mich wartet Arbeit. Sie wissen ja.«
»Auf mich auch. In Ordnung. Dann mal los.«
Charlotte ging die ersten Stufen an, den Kapitän im Schlepptau. Bald vernahm sie in ihrem Rücken sein Keuchen. Bevor sie oben ankam, hatte sie ihn verloren. Sie sah sich auch nicht nach ihm um. Oben atmete sie schwer und der Schweiß lief ihr den Rücken herunter. Sie lief unbeirrt weiter. Sie hatte es eilig. Es bereitete ihr Vergnügen zu spüren, wie ihre Muskeln arbeiteten und ihr Puls sich wieder normalisierte. Im Hotel nahm sie auch das Treppenhaus im Laufschritt. Unter der Dusche entspannte sie sich. Ein wohliges Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen. Es versetzte sie in Arbeitslaune und vermittelte ihr die Gewissheit, dass sie einer wichtigen Sache auf der Spur war.
*
In der Mailbox fand sie die Liste der Hinterlassenschaften und den Obduktionsbericht der Kadettin. Auf Jungs Vertrauensmann war also Verlass, stellte sie mit Befriedigung fest. Das ermutigte sie, nach dem Unfallbericht des verstorbenen Seemanns zu fragen. Wie hieß er eigentlich? Da sie keinen Namen hatte, beschrieb sie mit wenigen Worten, was sie über den Fall wusste. Das war nicht viel. Aber wenn der Mann so gut war, wie es den Anschein hatte, würde er ihn finden.
Sie sah auf die Uhr. In Deutschland musste es Nacht sein. Auf Antwort zu warten, lohnte sich also nicht. Sie las den Obduktionsbericht auf Besonderheiten durch. In ihren Augen gab es keine Auffälligkeiten. Keine Schwangerschaft, keine Gewaltanzeichen, keine Abnormitäten. Da ihr ein Drucker nicht zur Verfügung stand, zog sie die Dokumente auf einen Datenstick, um sie später an Bord ausdrucken zu lassen.
Sie war gerade fertig, als der Eingang einer Mail auf dem Bildschirm angezeigt wurde. Mit Verwunderung las sie die Bestätigung ihrer Anfrage und die Ankündigung, dass in Kürze der gewünschte Untersuchungsbericht zu ihr auf dem Weg sein werde. Der Typ arbeitete also auch nachts. Oder war es eine Frau? M. Franzen konnte beides heißen. Hatte Jung eine Liebschaft auf der Dienststelle? Die Schnelligkeit war verdächtig. Egal, es gefiel ihr. Das Heraussuchen würde etwas dauern,
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