Mordsee
weil er bewusstlos war. Woher die Wunde stammt, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Die Polizei nimmt an, dass er sich den Kopf an den Steinen der Uferböschung aufgeschlagen hat. Der Wasserstand war über Nacht angestiegen. Um einen halben Meter. Die Steine lagen morgens unter Wasser. Das nur als Hinweis auf die Ungenauigkeit. Der Promillegehalt im Blut betrug Nullkommasechs, war also nicht sehr hoch. Am Abend, bevor seine Leiche gefunden wurde, hatte er ein Date mit unserer ertrunkenen Kadettin vom Segelschulschiff. In einem italienischen Restaurant nahe der Unglücksstelle. Sie haben sich heftig gestritten. Der Kellner hat das zu Protokoll gegeben. Sie stürmte aufgebracht aus dem Restaurant. Das war gegen 21 Uhr. Was dann passierte, hat der Mann nicht mehr gesehen. Er hatte zu tun. Weitere Augenzeugen haben sich nicht gefunden. Auch nicht für die Zeit danach. Für die geschätzte Todeszeit hatte die Kadettin ein Alibi. Sie war zu Hause. Beide Eltern haben das bestätigt. Die Rechnung hat die Kadettin ein paar Tage später beglichen, als sie wegen ihrer Lederjacke noch einmal vorbeikam. Sie vermisste die Jacke und hoffte, sie dort zu finden. So weit zu den Fakten.« Charlotte holte tief Luft.
»Alles?«, fragte Jung.
»Nein. Das Wichtigste kommt noch.«
»Okay. Dann mal weiter.«
»Die Kadettin wurde nach dem Grund ihres Streites befragt. Die entsprechenden Passagen im Vernehmungsprotokoll habe ich angestrichen. Sie müssen das lesen. Dann wissen Sie, was ich meine.« Sie schob ihm ein Blatt mit dicker roter Randmarkierung über den Tisch. »Fragen sind ab sofort erlaubt.«
Jung nahm das Blatt und las.
»Wollen Sie jetzt etwas bestellen?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja. Ich nehme das Gleiche wie Sie.«
Jung streifte sie mit einem überraschten Blick und winkte dann dem Kellner, der im Eingang stand und die Terrasse im Auge behielt. Dann las er aufmerksam die markierten Stellen.
»Sie meinen also, hier läge das Motiv, nach dem wir suchen«, sagte er schließlich. »Wie hat er davon erfahren?«
»Von der Polizei. Von wem sonst? Bedenken Sie die tiefe Erschütterung. Sie hat seine Zunge gelähmt.«
»Ja«, gab er ihr recht. »Er wirkt wie paralysiert.«
»Und er hat unser Tischgespräch belauscht. Zumindest phasenweise.«
»Sie meinen, er bekam etwas zu wissen, das ihn nervös machte?«
»Das glaube ich«, bekräftigte Charlotte seine Vermutung. »Ich habe noch einmal genau in meiner Erinnerung nachgegraben. Er war im Raum, als Sie Ihren Verdacht äußerten. Er war in Raum, als Sie sagten, wohin Sie spazieren gehen wollten. Er ist Ihnen gefolgt. Das haben Sie gespürt. Dazu die körperlichen Zeichen unterdrückter Wut. Ein geradezu monströser Wutstau. Das hier bringt das Fass zum Überlaufen. Er kann seine Aggressivität nicht mehr kontrollieren und lässt sie raus.«
»Aber keine Spur von Gewalt«, wandte Jung ein. »Das sagt das Obduktionsprotokoll.«
»Es bedarf keiner rohen Gewalt, ein überrumpeltes zierliches Mädchen im Dunkeln über die Reling zu schubsen.«
Der Kellner kam und brachte den Wein. Charlotte nippte daran und stellte das Glas zurück. Jung beugte sich über das Papier und las es noch einmal durch. Dann sagte er mehr zu sich selbst: »Das hat was. Wenn er zu wissen glaubt, dass wir ihn überprüfen, dann wird er nervös. Nervöse Menschen verraten sich, das ist richtig. Habe ich das tatsächlich gespürt?« Jung nickte mehrmals mit dem Kopf und sagte dann mit Emphase: »Und genau das spielt uns in die Hände.«
»Ich finde, das klingt ermutigend«, kommentierte Charlotte lebhaft. »Leider halten wir nichts in Händen. Nichts Beweiskräftiges jedenfalls.«
»Noch nicht. Ich könnte ihn aber dazu bringen.«
»Wie wollen Sie das anstellen?«
»Weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn bei seinen Geheimnissen packen muss.«
»Ich möchte gern dabei sein.«
Jungs Antwort war ein energisches Kopfschütteln. Charlotte ließ sich nicht abspeisen.
»Eine Frau könnte vielleicht hilfreich sein, wenn es um Gefühle und Geständnisse geht.«
»Ich habe genau das gegenteilige Gefühl. Vielleicht schämt er sich. Vor einer jungen Frau noch mehr. An ihn ranzukommen, wird auch so schwer genug werden.«
»Dann lassen Sie mich wenigstens mithören. Unsichtbar.«
»Okay. Meinetwegen, wenn das geht. Aber lassen wir das vorerst. Es gibt auch noch anderes zu bedenken. Übrigens, gute Arbeit. Chapeau!«
Jung nahm sein Glas und trank ihr zu.
»Danke«, erwiderte sie,
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