Mordsfreunde
Kirchhoff und er kaum zehn Worte miteinander gewechselt, zu schrecklich war die Möglichkeit dessen, was sie am Ziel ihrer Fahrt erwarten konnte. Um Viertel vor zehn gestern Abend hatte er mit Pia telefoniert – er verfluchte sich für diesen Anruf! Auch wenn sich seine Kollegin stets kühl und gelassen gab, sie war auch ein Mensch, eine Frau, die sich womöglich in den falschen Mann verliebt hatte. Hatte sie Sander noch angerufen? War er zu ihr gefahren? Hatten sie gestritten? Hatte er sie im Verlaufe des Streits ... Sie hatten den Kühlraum erreicht, in dem das Krankenhaus die Leichen aufbewahrte, bis sie in die Rechtsmedizin oder zum Bestattungsunternehmen gebracht wurden. Eine Bahre mit einem abgedeckten Körper stand in dem gefliesten Raum, eine Kühlmaschine brummte. Bodenstein starrte auf den Boden und ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten. Er wollte es nicht sehen. Er wollte es nicht wissen. Das Laken, mitdem die Leiche bedeckt war, raschelte leicht, als die Ärztin es kommentarlos zurückzog.
»Das ist sie nicht«, hörte er Kirchhoff sagen, und die Erleichterung flutete durch Bodensteins Körper wie hochprozentiger Alkohol. Er schlug die Augen auf und trat mit zittrigen Knien an die Bahre. Die Frau war blond. Und das war auch schon alles, was sie an äußerlichen Merkmalen mit Pia Kirchhoff gemeinsam hatte.
Als Bodenstein eine Stunde später ins Kommissariat zurückkehrte, gab es eine erste Spur. Behnke und ein paar Kollegen hatten trotz großer sprachlicher Probleme mit sämtlichen der knapp fünfzig Erntearbeitern des Elisabethenhofes gesprochen, und zwei von ihnen erinnerten sich daran, dass Pia etwa gegen halb elf von einer Frau mit schulterlangem blondem Haar in einem Smart abgeholt worden war. Eine Entführung schied offenbar aus. Ostermann hatte von der Telekom das Bewegungsprofil ihres Handys erhalten. Sie war in Frankfurt gewesen, bis etwa um zwei Uhr morgens, zuletzt war das Telefon in Königstein geortet worden. Um kurz nach halb vier wurde es ausgeschaltet.
»Haben Sie auch schon die Liste der Telefonate?«, fragte Bodenstein.
»Heute ist Sonntag, Chef«, Ostermann schüttelte den Kopf. »So schnell sind die von der Telekom auch nicht.«
»Machen Sie Druck, auch im Labor. Ich will innerhalb der nächsten Stunde alle Ergebnisse haben«, sagte Bodenstein. »Haben Sie Kriminaldirektor Nierhoff erreicht?«
»Ja«, erwiderte Ostermann, »er plant schon die Pressekonferenz. Für einen halbtoten Bankvorstand lässt er sogar das Golfspielen sausen.«
Bodenstein enthielt sich eines Kommentars. Zwischen Nierhoff und ihm herrschte eine klare Arbeitsteilung, wasdie Öffentlichkeitsarbeit betraf, Bodenstein war froh darüber. Er holte sich die Akten Pauly und Jonas Bock und setzte sich an einen der Schreibtische, um alle Berichte zu lesen, die Pia verfasst hatte. Unkonzentriert überflog er die Vernehmungsprotokolle im Mordfall Jonas Bock. Plötzlich durchzuckte ihn eine flüchtige Erinnerung. Er blätterte zurück, in der Hoffnung, etwas zu lesen, was diese Erinnerung greifbar machte. Opel-Zoo. Sander. Lukas. Der Pick-up. Da war noch etwas gewesen, aber was nur? Bodenstein vermisste Pia und ihre beeindruckende Fähigkeit, sich an kleinste Details zu erinnern. In dem Moment fiel ihm die mysteriöse SMS ein, die Pia an Sander geschickt hatte. Er öffnete sein Handy und suchte die Nachricht, die Sander an ihn weitergeleitet hatte. »Ostermann?«
»Ja?« Sein Mitarbeiter blickte hinter seinem Monitor hervor. Bodenstein reichte ihm sein Handy.
»Diese SMS hat Frau Kirchhoff letzte Nacht an Zoodirektor Sander geschickt.«
»DOUblellFE. Tark. Rosn«, las Ostermann.
»Was halten Sie davon?«, fragte Bodenstein.
»Double Life ist ein Internetspiel, das vom Verfassungsschutz als gewaltverherrlichend eingestuft und deshalb verboten wurde. Auf der Webseite von Svenja habe ich einen Link dazu gefunden. Ich habe Pia davon erzählt.«
Bodenstein erinnerte sich an sein Gespräch mit Franjo Conradi und versuchte, sich den genauen Wortlaut dessen, was der Junge gesagt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Dieses dämliche Spiel. Double Life war Lukas' Idee.
»Rufen Sie Franjo Conradi und Tarek Fiedler an«, sagte er zu Ostermann, der ihm einen überraschten Blick zuwarf.«Sie sollen sofort hierher kommen, denn sie wissen etwas über dieses Spiel.«
Ostermann starrte seinen Chef verständnislos an.
»Ich habe gestern mit den beiden gesprochen«, erklärte er. »Tarek Fiedler hat mal im Opel-Zoo
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