Mordskerle (German Edition)
öffnen.
Es war nicht mehr wichtig.
Sie hat das Schlimme vergessen, erklärten die Töchter den Freunden, die vorbei kamen, um Blumen abzugeben und Trost zu schenken. Oh nein, sie hatte nichts vergessen, verspürte jedoch nicht den Wunsch, es den anderen zu erklären.
Es war besser so, wie es war, fand sie.
Sie saß am Fenster und erinnerte sich.
Dachte über ihr Leben nach und je weiter sich diese Erinnerungen vom Hier und Heute entfernten, desto klarer sah sie.
Irgendwann begann sie plötzlich zu weinen. Weinte, weil sie ahnte, dass ihr Leben vorbei war. Ihr Leben war ihr Sohn gewesen. Sie hatte ihn verloren. Unwiderruflich verloren. Und das nicht erst durch seinen schrecklichen Tod, diese grausame Tat, sondern schon vorher, als er älter, erwachsener geworden war. Sie weinte auch wegen der Erkenntnis, dass sie diesen Verlust möglicherweise hätte verhindern können.
Sie hätte ihm an jenem Abend das Geld nicht geben dürfen.
Einmal konnte sie ihre Töchter lachen hören. Ja, sie lachten schon wieder, als vermissten sie ihren Bruder gar nicht, als hätte sein Tod keine Lücke, keine Leere hinterlassen. Eine kurze Zeit nach Metins Beerdigung begannen die Mädchen wieder, sich zu schmücken, sie plauderten über unwichtige Dinge – zum Beispiel, ob sie sich eine neue Friseur machen lassen oder diese schrecklichen Schuhe mit Plateausohlen kaufen sollten…
Dann kam der Augenblick, da sie anfing, seinen Namen zu flüstern. Die beiden Silben klangen jetzt schon so fremd, als hätten sie nichts mehr mit ihm zu tun, als wäre alles schon sehr lange her, seit jemand seinen Namen genannt hatte. Und darum sagte sie ihn wieder und wieder, bis ein Schluchzen aus ihr heraus brach, so heftig, das es sie schüttelte und beugte, bis ihre Stimme brach und sie erneut verstummte.
10. Kapitel
S ylvia hatte Annelie nicht zu sich nach Hause eingeladen. So intim war man nie gewesen, denn Sylvia empfing nur allerbeste Freunde in ihrer Jugendstilvilla am Rotenbaum. Zu diesem illustren Kreis hatte Annelie nie gehört.
Nein, Sylvia hatte sich mit Annelie im „Steigenberger“ verabredet. Snobistischer geht´s nicht, dachte Annelie in einem Anflug von Sarkasmus, als sie ihren Citroen vor dem Steigenberger parkte. Natürlich war der obligate Türsteher sofort zur Stelle, um die Autoschlüssel entgegen zu nehmen und den Wagen in die hoteleigene Garage zu fahren. Annelie zögerte, ehe sie den Schlüssel aus der Hand gab. Sie überließ ihr Auto nur ungern anderen Menschen. Schließlich wusste man nie, ob man es unversehrt zurückbekam.
Sylvia thronte im Hotelrestaurant wie einst die alte Queen Victoria anlässlich ihrer Krönungszeremonie gethront haben mochte. Annelie verkniff sich dennoch jede anzügliche Bemerkung, als sie Sylvia die Hand reichte. Gleichzeitig machte sie liebenswürdige Konversation.
„Meine Güte, Sylvie, es ist eine Ewigkeit her, nicht wahr? Du siehst prachtvoll aus, meine Liebe. Wie das blühende Leben. Ja, sehr schade, dass ich neulich nach Bernhards Beisetzung so wenig Zeit hatte… Darf ich hier sitzen? Was trinkst du? Nein, ich bitte dich, ein Gläschen Veuve Cliquot darfst du nicht ablehnen! Wir wollen die Gelegenheit nutzen und auf unser Wiedersehen anstoßen, okay?“
Nach diesem Wortschwall hatte sie das unangenehme Gefühl, ihr Gesicht müsste bei so vielen, von falscher Freundlichkeit triefenden Phrasen, begleitet von einem permanenten, unaufrichtigen Lächeln, jeden Moment auseinander brechen.
Also hörte sie damit auf, setzte sich und prostete Sylvia, ohne abzuwarten, mit dem Champagner zu. Jetzt hatte sie einen kräftigen Schluck nötig.
„Du kommst alleine?“, wollte Sylvia indes wissen und sah erneut an Annelie vorbei auf die Glastür, als müsste dort noch jemand auftauchen.
„Natürlich komme ich alleine“, nickte Annelie erstaunt. „Wen hattest du denn erwartet?“
„Nun, na ja, ich dachte… vielleicht dein…“
„Meine Tochter?“ Annelie ignorierte großzügig die Anspielung der Anderen. „Ich habe keine Ahnung, wo Lena sich herum treibt. Sie wollte an die Westküste, glaube ich, ein bisschen Urlaub machen.“
„Ach so“, murmelte Sylvia gedehnt, wobei sie Annelie mit einem neidvollen Blick bedachte. „Also lebst du momentan alleine?“
„Liebste Sylvia, ich lebe seit Gottliebs Tod alleine“, erwiderte Annelie freundlich.
„Aber es wird doch immer wieder erzählt, dass man dich in Begleitung eines Mannes…“, begann Sylvia, wurde jedoch sofort von Annelie
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