Mordskerle (German Edition)
Sofies Wangen. „Ich konnte nichts für ihn tun“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. „Ich war so… so kopflos. Der ganze Berg zitterte, Asche, Feuer, Steine flogen durch die Luft, und Bernhard rannte wie entfesselt umher, schrie mir seine Begeisterung, seine Faszination zu, und ich konnte damit nichts anfangen… Ich hatte nur ANGST! Ich wollte weg, ich weinte und schrie, bettelte und flehte, er sollte mit mir zurück zum Hotel laufen oder mir wenigstens den Weg zeigen, denn in der Panik hatte ich vergessen, welchen wir Weg genommen hatten…Ich wollte nur weg! Sollte er doch das tolle Naturschauspiel genießen, so lange es ihm Spaß machte. Aber ohne mich. Ohne mich“, wiederholte sie mehrfach, während gleichzeitig ihre Tränen versiegten.
Dann suchte sie erneut Annelies Blick. „Annelie, ich war erbärmlich feige. Ich war schon im Begriff, weg zu laufen –so, wie ich mein ganzes Leben lang weg gelaufen bin – als ich seinen Schrei hörte. Und auch da bin ich immer noch weiter gerannt. Wahrscheinlich wäre ich geflohen, ohne mich nach ihm umzusehen, wenn ich nicht gestolpert und hingefallen wäre. Ich brach mir dabei zwei Rippen und zog mir mehrere Blutergüsse zu, konnte kaum Luft kriegen, habe immer mehr geweint und geschrieen und mich halbtot geängstigt, wie ich da so am Boden lag und um mich herum die Welt unterging. Aber ich bin nicht zu Bernhard gelaufen, um ihm zu helfen, ihn in Sicherheit zu bringen, zu retten.“
„Wie denn?“, wollte Annelie lakonisch wissen. „Du mit deinen fünfzig Kilo Lebendgewicht wolltest einen Mann in Sicherheit bringen, der doppelt soviel wog und fast zwei Meter groß war?“
Da schlug Sofie verzweifelt die Hände vor das kleine, weiße Gesicht. „Inken und Axel wollen nicht, dass ich das jemand erzähle. Sie haben überall verbreitet, dass ich ungeachtet meiner eigenen Verletzungen heldenhaft versucht habe, Bernhard unter einen Felsvorsprung zu ziehen, weil ich nicht ahnte, dass er bereits tot war. Erschlagen von einem herum fliegenden Stein.“
Als Annelie die Treppe zur Halle wieder herunter schritt, lag ein ungefähr eine Stunde langes, anstrengendes und zeitweise mühsames Gespräch mit Sofie Beer hinter ihr. Nach allem, was Annelie zu hören bekommen hatte, verwunderte es sie nicht mehr, dass Inken sie unten an der Treppe bereits erwartete.
Die junge Frau bemühte sich sichtlich, entspannt und entgegenkommend zu wirken. Um diesen Eindruck zu betonen, blätterte sie scheinbar konzentriert in einem Aktendeckel, tat so, als ob sie nichts hörte oder sah und hob erst den Kopf, als Annelie zwei Meter von ihr entfernt ankam.
„Ach, Annelie“, sagte sie dann, scheinbar überrascht, und schlug die Akte zu. „Schon wieder da? Wie war es?“
„Na ja…“
„Das dachte ich mir“, nickte Inken, während sie Annelie durch die Halle zum Ausgang begleitete. „Mutter ist noch reichlich – verstört.“
„Sie braucht sicher viel Zeit, um alles zu verkraften.“
Irene blieb plötzlich stehen und machte eine Bewegung, als wollte sie nach Annelies Hand greifen, sich fest halten, doch sie fing sich sofort wieder. „Hat sie mit dir über Max gesprochen?“, stieß sie hervor, ohne Annelie dabei anzusehen.
Die stutzte. „Wieso?“
„Ich will nicht, dass sie Max hierher einlädt“, fuhr Inken, immer mit derselben gepressten Stimme, während auf ihrem Gesicht eine Qual lag, die Annelie überraschte. Was ging hier vor? Was belastete Inken?
„Reden wir gerade von Max Breidbach?“ vergewisserte sie sich vorsichtig, obwohl klar war, dass Inken genau den und niemand anderen meinte.
„Axel weiß nichts von Max“, Inkens Stimme begann zu jagen. Ihr Blick huschte immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde hin zu Annelie, um dann sofort abzuschweifen. „Meine Mutter irrt sich, wenn sie meint, dass Max… Also, ich will ihn hier nicht haben. Es ist nicht nötig, dass die alten Geschichten wieder aufgewärmt werden, nicht wahr? Vater ist tot. Es ist niemand damit gedient, wenn wir nachträglich anfangen, sein Leben aufzurollen und neu zu definieren.“
Annelie begriff kein Wort, doch sie hütete sich, das deutlich werden zu lassen. So murmelte sie lediglich in unaufrichtigem Mitgefühl:
„Selbstverständlich hast du Recht, Inken. Ich bin ganz deiner Meinung. Friede unseren Toten.“
Als die Tür hinter ihr zuschlug, stand sie einen Moment lang auf der obersten Treppenstufe und schüttelte verständnislos den Kopf. Sofie hatte Max Breidbach mit keinem
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