Mordskerle (German Edition)
In Lenas Blick lag nichts als Belustigung bei dieser stummen Frage. Und stumm fuhr sie fort: Du gehst nie spazieren. Du weißt gar nicht, wie man das macht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um vorwärts zu kommen. Du legst doch sogar die paar Meter vom Haus bis zum Auto nur unter Protest zurück!
Aber das alles sprach sie natürlich nicht aus.
Der Kommissar hatte jedoch noch eine Frage. „Machen Sie regelmäßig so späte Spaziergänge?“, wollte er wissen.
Nie! antwortete Lena lautlos, während Annelie unverdrossen log: „Oh ja! Ich brauche Bewegung, Herr Kommissar. Man wird ja nicht jünger, nicht wahr?“
Richtig, nickte Lena in Gedanken. Aber du gönnst dir eine sehr spezielle Art von Bewegung, die mit Spaziergängen nicht das Geringste zu tun hat…
Vonhoff drehte sich unvermittelt zu Lena um: „Woher kommen Sie gerade?“
Sofort reagierte Lena gereizt. Was wollte der Mann von ihr? Ein Alibi? Ja, glaubte er denn, dass sie fähig wäre, ihre eigene Mutter nieder zu schlagen? Und während sie das noch nicht zu Ende gedacht hatte, antwortete eine winzige Stimme in ihr: Jawohl, das wärst du!
„Ich komme jetzt aus Schleswig“, antwortete sie verdrossen. „Von einem Freund. Leider wurde er überraschend – krank.“
Ob er ihr das glaubte, blieb sein Geheimnis, denn er äußerte sich nicht zu Lenas Aussage. Stattdessen sah er auf seine Uhr:
„Inzwischen ist die zweite junge Dame wohl eingetroffen. Mal sehen, was sie uns erzählen kann.“
„Gehen Sie rücksichtsvoll mit Inken um, Herr Kommissar“, bat Annelie ungewohnt zartfühlend. „Sie hat gerade erst ihren Vater verloren.“
„Wir sind über die Situation bestens informiert, Frau Klüver“, brummte Vonhoff.
Annelie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, seufzte dann plötzlich matt, während sie sich ans Herz griff. Lena erschrak. Was war los? Die Nachwirkungen des Schocks? Oder gar ein Herzanfall?
Auch der Kommissar machte ein besorgtes Gesicht. „Frau Klüver, geht es Ihnen nicht gut?“
„Das kann man wohl sagen“, klagte Annelie, jetzt tatsächlich mit aufrichtigen Tränen in den Augen. „Mir ist gerade etwas Schreckliches eingefallen.“
„Was?“, fragten Lena und der Kommissar gleichzeitig.
„Dass am Sonnabend das Derby in Flottbek anfängt und ich kann nicht hin, wegen meiner Schulter. Dabei habe ich mir eigens für das Derby einen neuen Hut gekauft.“
Sie machte eine kleine Pause, in die hinein Lena mit dumpfer Stimme sagte: „Wenn du glaubst, dass ich für dich zum Derby gehe, dann irrst du dich. Ich kann Pferde nicht leiden, und noch viel weniger ertrage ich all´ die aufgezäumten Schnepfen, die da herum stelzen!“
16. Kapitel
F rau, sagte Rahmi Ünal jeden Morgen, ehe er zur Arbeit ging, Frau, kümmere dich um die Mädchen. Du hattest nicht nur einen Sohn. Du hast noch deine vier Töchter.
Warum? fragte sie, aber sie sprach es nicht aus. Sie dachte es nur. Warum hätte sie sich um ihre Töchter kümmern sollen? Die taten ohnehin, was sie wollten. Die Älteste hatte sich die Haare blond gefärbt, und Rahmi hatte kein Wort dazu gesagt, sondern nur da gestanden und das Mädchen angeshen. Dann war er weg gegangen.
Die Töchter lebten so, wie sie vor dem Tod ihres Bruders gelebt hatten. Sie sprachen über Jungen und neue Kleider, kicherten über irgendwelche Witze, die außer ihnen niemand verstand. Es schien, als hätten sie den toten Bruder schon vergessen.
An einem dieser Tage, als ihre älteste Tochter, Serpil, das Haus ohne Kopftuch auf dem hellblond gefärbten Haar verlassen wollte, da trat ihre Mutter hinter sie und riss sich das eigene Tuch vom Kopf, um es der Tochter umzulegen. Das Mädchen schrie auf, denn die Mutter war grob und erwürgte es fast.
Da begann das Mädchen sich zu wehren, schlug und trat nach der Mutter, riss sich schließlich das Kopftuch ab, um es der Mutter vor die Füße zu werfen.
Ich will das nicht! schrie sie. Ich brauche es nicht. Wenn du meinst, es tragen zu müssen, meinetwegen, aber ich nicht…
Da holte die Mutter aus und schlug ihre älteste Tochter rechts und links ins Gesicht, bis es glühte von den Schlägen und das blonde Haar in Strähnen hing.
Die drei anderen Mädchen waren schon beim ersten Lärm zwischen der Schwester und ihrer Mutter die Treppe herunter gestürzt, dann kreischten alle durcheinander, warfen sich zwischen Serpil und die Mutter, klammerten sich an die Rasende, die plötzlich nie gekannte Kräfte besaß und so lange nach der ältesten Tochter
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