Mordskerle (German Edition)
nicht gewachsen.
„Sie müssen mir glauben, Frau Klüver“, versicherte Tim indes noch einmal. „Ich war´s nicht. Ich bin nur noch mal umgekehrt, weil mein Feuerzeug plötzlich weg war.“
„Sein“ Feuerzeug hatte bis vor kurzem noch Annelie gehört. Den kleinen Elefanten mit den Edelsteinaugen hatte sie Tim zusammen mit einer Packung Zigaretten neulich geschenkt und war ihm nun auf der Terrasse überraschend wieder begegnet. Das ließ Vermutungen in alle Richtungen zu, fand Annelie. Doch noch war sie viel zu schwach, um dem Jungen zu widersprechen. Stattdessen reichte sie ihm das Feuerzeug, um sich schweigend im riesigen Wohnzimmer des Beer´schen Ferienhauses umzuschauen.
Es war alles weitaus erbärmlicher, als sie jemals erwartet hätte. Auf Vernachlässigung war sie gefasst gewesen, denn wie sollte man ein Haus in Ordnung halten, das kaum noch jemand nutzte. Das Chaos, das hier herrschte, übertraf jedoch alle ihre Erwartungen.
Sylvia Herzig kam manchmal hierher, erinnerte Annelie sich, doch niemals hätte Sylvia ein solches Chaos zurücklassen. Die Sitzmöbel, allesamt aus echtem Leder und einst bestimmt sehr teuer gewesen, waren nicht nur verstaubt, sondern schlichtweg verdreckt. Unzählige Füße waren mit schmutzigen Schuhen darüber hinweg spaziert, während die Gardinen zum Teil abgerissen vor den Fenstern hingen, die vor Schmutz und Staub starrten. Der Perserteppich erstickte unter Zigarettenasche und Alkholflecken.
Doch das Schlimmste war der faulige, feuchte Geruch, der in allen Räumen hing. Verglichen damit, konnte man den einst versiegelten Parkettfußboden in der Diele, der lediglich Brandspuren aufwies, fast als erträglich empfinden.
Annelie drehte den Kopf mühevoll nach Tim um. „Was geht hier eigentlich ab?“
Der Junge hob die mageren Schultern. „Das weiß ich auch nicht so genau. Aber geredet wird schon lange drüber.“
„Worüber?“
„Dass hier regelmäßig gekokst wird. Dass sich Leute treffen, um alles mögliche Zeugs zu rauchen und so.“
„Ah ja“, murmelte Annelie, nach dem Whisky nun müde und unfähig, ihre Gedanken zu ordnen. „Kümmert sich denn keiner um das Haus?“
„Hier ist nie einer“, wusste Tim.
„Und was tust du heute Abend hier?“
Er senkte den Kopf, während er den kleinen Elefanten unaufhörlich zwischen den Fingern drehte. „Mein Vater hat mich ´raus geschmissen. Ich dachte, vielleicht kann ich hier pennen.“ Auf einmal war er empört. „Weil es nämlich eine Sünde ist, so ein schönes großes Haus verkommen zu lassen! Wo andere Leute sich zu Fünft oder noch mehr in einer Dreizimmerwohnung ´rum quälen müssen!“
Annelie nickte langsam. Mehr ließen ihre verletzte Schulter und der schmerzende Nacken nicht zu. „Ja, da hast du wohl recht, Vale. Aber es ist nicht richtig. Das darf man nicht, in leer stehende Häuser einsteigen und sich einnisten und so was machen…“ Sie deutete angewidert auf das, was sich ihren Blicken ringsum bot. Wohin sie auch sah – es herrschte nur Schmutz, Gestank, Verwahrlosung.
Tim seufzte.
„Wie bist du denn überhaupt hier ´rein gekommen?“, wollte Annelie nach einem kleinen Schweigen wissen.
„Ach!“, Er machte eine verächtliche Geste. „ Der Schlüssel liegt unter einem Blumenkübel. Das weiß jedes Kind. Schlüssel liegen immer unter Fußmatten oder Blumenkübeln. Es war nicht schwer, ihn zu finden.“
Annelie fielen die Augen zu. Das Letzte, was sie dem Jungen noch zuflüstern konnte, war: „Ich muss zurück in mein Haus, Vale. Ruf meine Tochter an. Und einen Arzt. Alleine schaffe ich das nicht.“
Der nächste Tag war der Tag der Töchter.
Inken Beer-Lentz befand sich mitten in einer Konferenz, als morgens um neun Uhr der Anruf kam. Um diese Zeit saß Inken regelmäßig mit einem Dutzend Abteilungsleiter und diversen Geschäftsführern um einen großen, runden Tisch und wirkte als einzige Frau in diesem Kreis etwas einsam.
Die Welt des Big Business war eben in den oberen Etagen einer Weltfirma noch immer eine Männerwelt, auch in einem strikt hanseatischen Unternehmen wie der Beer AG.
Inken hatte ihren Platz am oberen Ende des Tisches. Fenster gab es hier nicht, sodass die junge Firmenchefin im künstlichen Licht fahl wirkte, als wäre sie krank. Ihr blondes Haar war stumpf, ihre Haut hatte einen matten, grünlichen Schimmer. Daran war vor allem die Beleuchtung schuld, doch nicht ausschließlich.
Inken hatte schon vor Jahren begriffen, dass lediglich die Geburt als einziges
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