Mordsmöwen
gleich liebt. Die Wahrheit ist, dass ich nichts für Knut empfunden habe … einfach nichts. Selbst das Wort Gleichgültigkeit wäre zu viel. In mir habe ich immer nur Leere verspürt, wenn ich ihn angesehen habe. Als Baby war Knut nicht satt zu bekommen, und nachts hat er mich mit seinem andauernden Geschrei auf Trab gehalten. Das hat es mir nicht leichter gemacht, eine Bindung zu ihm aufzubauen. Dann im Kindergarten musste ich mich für deinen Bruder bei den Müttern entschuldigen, deren Kinder er gebissen oder gehauen hat, während du friedlich in deiner Ecke gesessen und gemalt hast. In der Schule gab es nur Probleme mit ihm, hätte Fietje ihn nicht ständig abschreiben lassen, wäre er mehr als einmal sitzen geblieben. Knut hat immer nur das Gegenteil von dem gemacht, womit er uns eine Freude gemacht hätte. Er wollte immer seine eigenen Wege gehen, also habe ich ihn gelassen. Nur zuletzt nicht.«
»Ganz ehrlich? Dein Selbstmitleid kotzt mich an. Ich dachte immer, Knut wäre dir gleichgültig, aber er war nicht einmal das. Im Grunde ist es doch nicht verwunderlich, dass er all die Jahre mit Auflehnung reagiert hat – es war seine Art, deine Aufmerksamkeit zu erzwingen. Er hat ja von Anfang an instinktiv gespürt, dass er deine Liebe nur schwer bekommt. Und er hat es später auch gewusst, denn in dem Medaillon hast du nur mein Bild getragen. Oh Gott, wenn Vater das noch erleben müsste …«
»Ja, er hat euch beide geliebt, einen wie den anderen, und er hatte immer ein Herz für Knut, wenn es bei dem Jungen mal wieder finanziell geklemmt hat. Er wäre an jenem Abend nicht von der Fahrbahn abgekommen, wenn es nicht so gewesen wäre und er wie sonst auch seinen Freund in Hörnum darum gebeten hätte, beim Boot nach dem Rechten zu sehen. Aber er wollte die Fahrt ja unbedingt nutzen, um die Schulden bei Knuts Vermieter zu bezahlen.«
»Ich weiß«, sagt Sönke niedergeschlagen. »Genutzt hat es am Ende doch nichts, Knut musste in diese Wohnung nach Westerland ziehen. Oh Gott, hätte ich doch nur nie den Abschiedsbrief bei ihm aufs Bett gelegt. Ich hätte es mir anders überlegen und stattdessen zur Polizei fahren sollen …«
»Hätte, hätte, hätte! Sönke, du hörst mir jetzt gut zu: Du hältst die Füße still, dann wirst du sehen, die Ermittlungen verlaufen im Sand.«
»Und was ist mit Boy und Fietje? Die werden wohl kaum die Füße still halten. Sie haben gesehen, wo du Knut über Bord geworfen hast. Sie werden der Polizei den Leichnam präsentieren.«
»Das werden sie nicht tun. Sie haben ihr Geld bekommen. Hunderttausend Euro, wie vereinbart.«
»Du hast dich erpressen lassen?«
»Andere lassen sich die Erfüllung ihrer letzten Wünsche weit mehr Geld kosten.«
»Schluss jetzt. Schluss, aus! Ich rufe jetzt die Polizei an.« Sönke zieht sein Handy aus der Hosentasche und geht langsam die Treppen hinunter.
»Das wirst du nicht tun.«
»Und warum nicht?« Sein Daumen schwebt über dem Display.
Frau Johannsen schaut ihren Sohn an und schweigt noch einen Moment. Dann sagt sie leise: »Weil dein Bruder sonst nicht hätte sterben müssen.«
Sönke verharrt in seiner Position, dann, nach scheinbar unendlich langer Zeit, lässt er das Handy sinken. »Wenn ich mich nicht selbst anzeige, kann ich nur hoffen, dass Knuts Leiche niemals gefunden wird.«
»Und dazu nehmen wir jetzt dieser Möwe den Stofffetzen ab – sicher ist sicher.« Der Angriff von Knuts Mutter auf Alki erfolgt so plötzlich, dass ich instinktiv zur Seite springe.
Sie hat unseren Alki an der Kehle gepackt und versucht, ihm das Gürtelstück zu entreißen, doch der tapfere Alki presst mit aller Kraft seinen Schnabel zusammen. Dadurch kann er sich jedoch nicht mehr mit Schnabelbissen gegen Knuts Mutter wehren.
Ich lande auf dem Rücken der Angreiferin und picke ihr ins Genick. Eigentlich sollte das einen Loslass-Reflex auslösen, aber noch bevor es so weit ist, werde ich von Sönke am Flügel gepackt und auf den Boden geschleudert. Ich rutsche über die Dielen und knalle mit der rechten Schwinge gegen ein Tischbein.
Alki widersetzt sich immer noch tapfer, allerdings sehe ich an seinem Blick, dass er nicht mehr lange durchhält. Verdammt, wir sind darin geübt, den Menschen Beute abzujagen, aber nicht, gegen sie in den Krieg zu ziehen.
Harry hält seinen Sohn mit dem Flügel zurück, Suzette, Helgi und Jonathan haben sich Richtung Tür zurückgezogen. Balthasar steht neben Baron Silver de Luft und kommentiert die Szene wie ein
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