Mordsonate
von Birgit Aberger wegen des Juckpulvers zu befragen. Koller erhob sich sofort, um mit einem Murren den Raum zu verlassen. Erich rief ihm noch nach, dass er kein Wort über den Tod des Kindes verlauten lassen dürfe – auch Lehrern oder der Direktion gegenüber solle er den Fund des Fingers keinesfalls erwähnen. Koller drehte sich nicht einmal um, sondern reagierte auf den unnötigen Zuruf, den er fraglos als absichtliche Herabsetzung empfand, mit einer wegwerfenden Handbewegung, mit der er seinem Chef bedeutete, der solle ihn bloß nicht für einen Vollidioten halten.
Erich war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob sich eine offene Konfrontation vermeiden ließe, zumal seine Aversion gegen den Gruppeninspektor zunahm. Hätte der Fall jetzt schon eine unangenehmere Aufgabe bereitgehalten als die ohnehin wenig herausfordernde Befragung von Volksschulkindern, Koller hätte sie übertragen bekommen. Die mit Abstand unangenehmste Aufgabe würde Erich allerdings selbst übernehmen müssen: die Eltern des Mädchens zu benachrichtigen, das zwar noch nicht gefunden, aber zweifelsfrei tot war. Eine Todesnachricht zu überbringen war schon schwer genug, aber Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind ermordet worden sei, man aber seine Leiche noch nicht gefunden habe, sondern nureinen Teil davon, ließ einem auch nach Jahrzehnten im Polizeidienst noch immer die Knie weich werden. Aus ermittlungstaktischen Gründen würde er den Gang zu den Eltern so lange wie irgend möglich hinausschieben.
Erich besah sich den Akt über die Ergebnisse nach den Vermisstenaufrufen in Fernsehen und Zeitungen: Kein einziger der bei der Stadtpolizei eingegangenen Hinweise hatte zu brauchbaren Erkenntnissen geführt. Birgit Aberger schien nach dem Verlassen der Wohnung Weger in der Humboldtstraße spurlos verschwunden zu sein. Niemand hatte sich gemeldet, der etwas Verdächtiges beobachtet hatte. Es gab auch keine Zeugenaussagen hinsichtlich der Busfahrt des Kindes nach Hause. Es war natürlich nicht auszuschließen, dass das Mädchen ihren oder ihre Entführer gekannt hatte und freiwillig mitgekommen war. Mit einem Wort: Noch fehlte jeder Anhaltspunkt für die Ermittlungen.
»Und wer sagt, dass es außerhalb des Wohnhauses der Wegers passiert ist?«, dachte Erich laut nach. Er entdeckte eine Notiz zu dem Haus, in dem nachträglich Luxuswohnungen geschaffen wurden und das über keine Tiefgarage verfügte. Sämtliche Kellerabteile waren genau überprüft worden, mit Sicherheit war auszuschließen, dass das Kind dort in ein Verlies verbracht worden war. Nach den spektakulären Kindesentführungen der letzten Zeit wurden Abgängigkeitsfälle nunmehr von Anfang an viel gründlicher untersucht als früher.
Auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich sein dürfte, sagte er sich, sollten sie nicht grundsätzlich ausschließen, dass das Kind, ohne seiner Freundin etwas zu sagen, vor der Fahrt nach Hause vielleicht kurz entschlossen etwas unternommen hatte. Sich von einer unbekannten Person ansprechen zu lassen und mitzugehen – über diese Gefahrenwaren Kinder in der vierten Klasse Volksschule längst aufgeklärt; und Birgit Aberger zählte wie ihre Freundin Anja mit zehn Jahren zu den älteren Kindern der Klasse, da beide Mädchen auf Grund ihrer körperlichen Verfassung und des Geburtsmonats erst mit sieben Jahren eingeschult worden waren.
Erich bat den Abteilungsinspektor Seidl, alle Protokolle und den gesamten Akt, den sie von der Stadtpolizei übermittelt bekommen hatten, noch einmal gründlich durchzuarbeiten. »Vielleicht fällt Ihnen doch etwas auf, wo wir einhaken können.«
»Mach ich«, sagte Seidl und nickte mit ernstem Gesicht. Er übernahm die Unterlagen, um damit in sein Büro zu gehen, das er sich mit Mühlbauer teilte.
Obwohl Erich es in Linz bei seinen Chefvertretungen immer vorgezogen hatte, einen Fall zuerst vor allem mit sich selbst zu diskutieren, bevor er die anderen um ihre Sicht der Dinge fragte, störte es ihn jetzt nicht, dass Kontrollinspektor Mühlbauer und Revierinspektor Harlander noch in seinem Büro blieben, nachdem ihnen keine Aufgaben zugewiesen worden waren.
»Wer schneidet denn einem Kind, das er vorher umgebracht hat, den Finger ab?«, murmelte Mühlbauer. »Ein Sexualdelikt ist damit wohl auszuschließen. Oder geht die Perversion nun schon so weit …« Den korpulenten Mann schien es allein bei dem Gedanken daran zu schaudern. Da er heute den Hemdkragen weit offen hatte, fiel Erich erstmals auf, dass er mehrere
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