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Mordsonate

Mordsonate

Titel: Mordsonate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O. P. Zier
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den Knöcheln hinuntergezogen hatte. Als wäre ihr Schmerz noch nicht groß genug gewesen, machten ihr nun auch noch schwere Regelbeschwerden zu schaffen. Am Vorabend hatte sie noch eine von den Tabletten genommen, welche die Psychologin für sie dagelassen hatte. Heute wolle sie versuchen, das Medikament auszusetzen, ihr sei nämlich speiübel. Und wenn sie die Tablette schlucke, ohne dass sie zumindest ein wenig feste Nahrung zu sich nähme, würde sie sich sofort übergeben müssen.
    Peter nützte die Gelegenheit, um im Keller etwas aufzuräumen. Er hielt sich länger in dem staubigen Abteil auf und war mit dem Marmeladeglas, das er mitgenommen hatte, erst im Vorraum der Wohnung, als an der Tür Sturm geläutet wurde. Ein Mädchen aus dem Nachbarhaus, mindestens zwei Jahre jünger als Birgit, stand keuchend in Socken draußen, seine Inlineskater in den Händen.
    »Herr Aberger … Ihre Frau … auf dem Parkplatz, vor dem Supermarkt … kommen Sie schnell!«
    Peter bedankte sich, griff nach dem Wohnungsschlüssel, zog die Tür hinter sich ins Schloss und rannte los. So schnell, dass ihm das Kind, das auf der Eingangsstufe vor dem Haus erst seine Rollschuhe wieder anziehen musste, vorerst nicht zu folgen vermochte. Er rannte auf den Parkplatz des Supermarktes zu, wo Anna arbeitete – und sah niemanden. Er musste Luft schöpfen, beugte sich nach vor, spürte einen stechenden Schmerz in den Lungen und stützte sich keuchend mit den Händen auf seine Knie. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, und auch sein Hemd war komplett durchgeschwitzt. Es war kein Mensch zu sehen. Auch das Mädchen war ihm noch nicht nachgekommen … er hatte sich bei dem Kind überhaupt nicht nach Details erkundigt, sondern war sofort losgestürzt … hatte nicht einmal in die Wohnung gerufen. Vielleicht war Anna schon wieder zurück … womöglich wäre sie in ihrer Verwirrung zur Arbeit gegangen, obwohl heute Sonntag war.
    Peter sah sich um. Etwas Verlasseneres als diesen leeren, staubigen Supermarktparkplatz an einem schwülen und wolkenverhangenen späten Sonntagvormittag hatte er sein ganzes Leben noch nicht gesehen. Ab und zu fuhr ein Windstoß über den Asphalt, wirbelte Staub auf und trieb am Rand die Verpackung eines Schokoriegels und einen Fetzen Zeitungspapier einige Meter vor sich her.
    Als Peter schon wieder heimgehen wollte, fiel sein Blick in den Plexiglastunnel, in dem wochentags die aneinander geketteten Einkaufswägen abgestellt waren. Und da sah er sie. Der Aufschrei, der ihm entfuhr, war tonlos. Sofort rang er wieder nach Luft. Anna hockte zusammengekauert im hintersten Winkel. Fast genauso, wie er sie auf der Wohnzimmercouch verlassen hatte, als er in den Keller gegangen war. Sie bot einen so trostlosen Anblick, wie sie ohne Schuhe, in den von der Straße schmutzigen, dicken Wollsocken und der warmen Strickjacke in dem stickigen Unterschlupf kauerte, aus dem Peter der faulige Geruch nach verdorbenen Lebensmittelresten entgegenschlug, als er langsam auf seine Frau zuging, nachdem er sich zuvor verzweifelt umgesehen und mit einem Aufschluchzen halblaut gerufen hatte: »Ja hilft uns denn gar niemand?«
    Als er näher kam, sah er ein Stückchen blutiger Binde unter dem hoch gerutschten Nachthemd hervorschauen, über dem Anna ihre mit einer Kordel zusammengebundene Strickjacke trug. Und es fiel ihm auf, dass seine Frau mit ihrer linken Hand in der Jackentasche irgendeinen Gegenstand festhielt.
    Die groteske Hilflosigkeit, die dieser Anblick bot, ließ Peter nach zwei Schritten noch einmal kurz fassungslos innehalten, bevor er endlich in dem Plexiglastunnel zu seiner Frau ging. Mit offenem Mund starrte er auf die erbärmlichen Reste, die von Anna übrig geblieben waren, seit irgendjemand ihr einziges Kind umgebracht und so grausam verstümmelt hatte.
    »Anna … um Gottes willen, Anna«, stieß Peter mit kratzender Stimme kaum hörbar hervor. Der Schweiß troff ihm von der Stirn, als er vor seiner Frau, die ihn, ohne ein Wort zu sagen, aus ihren ausdruckslosen, verweinten Augen ansah, auf die Knie ging. Er presste sie, die plötzlichwieder stark zitterte, an sich – und beide wurden sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Als er sich ein klein wenig von Anna löste, bemerkte er, dass ihre Hand in der Jackentasche das alte rosarote Babyphon umklammert hielt, das Birgit, nachdem sie längst dem Kleinkindalter entwachsen war, noch einige Zeit zum Spielen benutzt hatte. Er hätte nicht gedacht, dass es das überhaupt noch gab.
    Anna

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