Mordsonate
Schuldige entgehen nur zu oft jeder Strafe. Damit zurechtzukommen, ist vielleicht überhaupt das Schwierigste.«
Er stand auf und schenkte Wein ein. Vera langte wieder zu: »Du mästest mich ja, Erich … ich kann nicht aufhören … aber gestern bin ich über das Joghurt zu Mittag nicht hinausgekommen … ich hole das bei dir nach.«
Um von Birgit abzulenken, begann er davon zu erzählen, weshalb er seine Fahrräder nie absperrte. Vera war für den Themenwechsel sichtlich dankbar und hob ihr Glas. »Du wirst ja immer facettenreicher und interessanter. Keine Spur eines grauen Beamten.«
Sie stießen an und Erich erzählte von jenem heißen Sommertag in Statzing, als er wie üblich der alten Frau Waldenberger die Ziegenmilch brachte, weil sie Kuhmilch nicht vertrug. »Sie wohnte ziemlich weit abseits, die Keusche steht heute längst nicht mehr. Ich klopfe an, es rührt sich nichts. Da schaue ich beim Fenster hinein und sehe die Frau in ihrer Stube auf dem Boden, halb sitzend, halb liegend. Ich laufe hinein … stelle die kleine Milchkanne ab und spreche sie an. Aber sie reagiert darauf nicht. Ich renne also hinaus, renne los. Beim ersten Haus – nur wenige hatten damals einen Telefonanschluss in Statzing – ist kein Mensch daheim, die Leute irgendwo auf den Feldern. Und ich stehe vor dem ersten abgesperrten Fahrrad. Es hat damals – ungewöhnlich in dieser Gegend – einigeFahrraddiebstähle gegeben, denn an sich wurde in dem Dorf kaum etwas abgesperrt. Jedenfalls passierte mir das bei drei Häusern! Und da ich noch kein eigenes Rad besessen habe, bin ich zu Fuß zum Gemeindearzt gerannt, nach St. Georgen. Dort musste ich auch noch warten, weil er gerade zuvor aufgebrochen war, um einen Hausbesuch zu machen. Und als wir mit seinem hellgrünen Opel Kadett zurückgekommen sind, war es für die Frau Waldenberger zu spät.« Vielleicht sei sie ja bei seinem ersten Eintreffen schon nicht mehr am Leben gewesen, egal, seither habe er sich geschworen, nie wieder ein Fahrrad abzusperren. »Ich war zehn Jahre alt, konnte längst Rad fahren, man durfte es aber erst mit zwölf Jahren, in dem Alter bekam ich dann mein erstes Gebrauchtrad.« Seither sperre er jedenfalls kein Fahrrad mehr ab. »Verrückt, nicht?«
»Nein, rührend«, entgegnete Vera ernst.
»Ich habe als Kind oft davon geträumt, wie es mir gelingt, mit dem Fahrrad den Arzt doch noch rechtzeitig zu verständigen. Und die Frau Waldenberger hat mir in diesen Träumen so über den Kopf gestreichelt, wie sie es zu ihren Lebzeiten öfter gemacht hat. Etwas, das ich in Wirklichkeit gar nicht gemocht habe … aber im Traum habe ich es als sehr angenehm empfunden.«
Nach dem Brunch unternahmen die beiden einen Spaziergang bis zum Leopoldskroner Weiher, und dabei konnte Erich sich nicht zurückhalten und erzählte Vera auch gleich noch die Geschichte von Babsi. Darauf hin umarmte sie ihn, und sie küssten einander.
Als sie dann eng umschlungen auf einer Bank saßen, stellte Erich fest, dass er Vera wieder kaum zu Wort kommen hatte lassen. Sie drückte sich an ihn, und nachdem sie einander noch einmal geküsst hatten, sagte sie, dass vor der Trennung von ihrem langjährigen Partner so viel Hässlichespassiert sei: »Vertrauensbrüche. All das, was man sich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen ausmalt, was man dem Menschen, für den man sich entschieden hat, niemals zutrauen würde.« Wie man sich auch selber so zum Negativen verändere, dass einen schließlich vor sich grause. »Es war am Ende so viel … Hass … nur noch Hass.«
Deshalb, flüsterte sie, werde sie noch ein wenig Zeit brauchen. »Du verstehst das, ja?«
»Natürlich«, antwortete Erich und küsste sie, während er unwillkürlich überlegte, ob dieser frühere Partner etwas mit dem Verbrechen zu tun haben könnte. Hatte er Vera ihre hochbegabte Schülerin weggenommen, weil er ihr den Triumph nicht gönnte?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie: »Natürlich habe ich schon daran gedacht, ob nicht er … es war am Schluss so entsetzlich zwischen uns … ich weiß nicht, Erich … irgendwie wäre ihm alles zuzutrauen. Aber so etwas?«
»Er lebt noch in München?«
»Ich denke schon. Er ist an sich auch Musiker, hat sich aber immer mehr auf den Musikalienhandel verlegt. Zuletzt besaß er zwei Geschäfte.«
Erich zückte sein kleines Notizbuch und notierte sich den Namen Bernhard Kopischke. »Ich lasse ihn über den Weg der Amtshilfe zur Sicherheit überprüfen.«
Vera nickte
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