Mordsonate
natürlich nur zu gut, dass ihr Zustand eine ganz andere Ursache hatte. Ihre Zeit als Chefsekretärin der ENAG würde nun bald vorbei sein!
Sie war überzeugt, dass Hans ihr Geheimnis zu seinen Gunsten einzusetzen versuchen würde … sofern sie nicht … ja, warum sollte sie eigentlich nicht? Sein nächtlicher Anruf … das gewünschte Alibi … sollte sie wieder lügen? Aber sie hatte doch noch nie gelogen! Sie war einfach nicht danach gefragt worden, von der Polizei, was sie aus dem Klofenster der Parteizentrale beobachtet hatte. Und der ENAG-Posten war ihr doch so schnell angeboten worden … sie hatte den damaligen Landesparteisekretär doch nur, naiv, zugegeben, gefragt, ob sie mit ihrer Beobachtung nicht zur Polizei gehen sollte … der Präsident, der so zu seinem Wagen getorkelt war … und schon hatte man ihr dieses Angebot gemacht, das kein Mensch abgelehnt hätte. Von Lüge konnte keine Rede sein, denn wenn sie von der Polizei gefragt worden wäre, dann hätte sie doch niemals die Unwahrheit gesagt. Und jetzt? Hätte Hans nicht irgendwie auch ein bisschen Recht, als er gemeint hatte, dass ihr Abenteuer doch auch leicht an dem Tag passiert sein hätte können, an dem das Mädchen verschwunden war? War es vielleicht ohnehin dieser Tag gewesen? Wusste sie denn das noch so genau? Und täuschte einen die Erinnerung nicht sowieso allzu oft? Wer konnte von ihr verlangen, über alles in ihrem Leben Buch zu führen? War es denn nicht eher so, dass … nein, ganz ausschließen konnte sie es nicht, dass es nicht doch dieser besagte Tag gewesen war, oder?
»Du bist … geht’s dir nicht gut, Gerlinde?« erkundigtesich eine Kollegin aus dem Rechnungswesen, die sich im Waschraum der Toilette gerade die Hände trocknete, als Gerlinde die Kabine verließ. »Du bist ganz bleich.«
»Eine Fischsemmel … die ich gestern beim Heimgehen … die war wohl nicht mehr in Ordnung. Aber ich hatte so einen Gusto darauf.«
»Ja, ich muss mich auch oft zurückhalten. Seit sich meine Schwägerin aber so etwas von Dünnsch- … die hat sich vielleicht den Magen verdorben, sag ich dir.«
Gerlinde hörte das nicht mehr wirklich, als sie sich die Hände wusch und einen kurzen Blick in den Spiegel warf. Ihr von einem dünnen Schweißfilm überzogenes Gesicht glühte, obwohl es von außen blass und kalt wirkte. Und als sie dann beim DI in der Tür stand, um ihm die Postmappe zu bringen, sah er sofort, was los war – obwohl er natürlich nicht die geringste Ahnung hatte, was wirklich los war. Oder täuschte sie sich? Wusste er alles, seit dem Besuch dieses Parteischnösels? Der aber auf ihren Posten noch keine Auswirkung gehabt hatte. Oder war das alles erst im Laufen? Wartete man ab, was der Weger jetzt unternehmen würde, um mit ihr dann schnell ein Bauernopfer zur Hand zu haben?
»Sie schauen ja schrecklich aus, Gerlinde. Was haben Sie denn nur angestellt?«
Obwohl sie das Wort »angestellt« zusammenzucken ließ, erzählte sie ihre Geschichte von der Fischsemmel inzwischen schon mit einiger Routine. Und der DI war wieder ganz der Alte – er wirkte heute überhaupt sehr heiter und gelassen –, als er mit großem Charme bestimmte: »Sie gehen sofort heim, Gerlinde, und legen sich nieder. Ich versuche das hier allein zu schaukeln – nur die Post, wenn Sie bitte noch erledigen.«
»Aber natürlich.«
»Und kurieren Sie sich unbedingt aus, Gerlinde, für morgen besorge ich mir Ersatz – der natürlich nie ein Ersatz sein kann. Aber das brauche ich nicht eigens zu betonen.«
»Ja, danke«, hauchte sie kleinlaut und erschrak dann noch einmal, als er ihr nachrief:
»Machen Sie sich nur keine Sorgen, Gerlinde, es ist alles in Ordnung. In bester Ordnung.«
Hatte er damit wirklich nur den Bürobetrieb gemeint und nicht doch auf ihr Geheimnis angespielt? Sollte etwa gar die Partei die Finger im Spiel haben, bei der Verhaftung … als der Sekretär da war … Nein, wie sollte die Partei dafür sorgen können, dass Hans so massiv unter Verdacht geriet … oder … was wäre denen eigentlich nicht zuzutrauen, wenn sie nur an diesen Landtagspräsidenten dachte, als es immerhin einen unschuldigen Toten gegeben … und der … der war plötzlich selbst schuld gewesen, dass ihn das Auto des Landtagspräsidenten überfahren hatte, denn der Präsident, der war nüchtern gewesen … jedenfalls kein Mensch aufzubieten, der etwas Gegenteiliges ausgesagt hätte … niemals wäre er selbst gefahren, wenn … der hatte natürlich seinen Chauffeur
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