Mordspech (German Edition)
bellte sie auffordernd an.
»Wirst nicht müde, was?« Tante Tilly sah prüfend in den morgendlichen Himmel. Heute war der erste Sonnentag in diesem Sommer. Den ganzen Juli hatte es geregnet und den Juni über auch. Aber heute? Ein richtiger Hochsommertag. Seltsam. Sie war mit dem Hund in der freien Natur unterwegs und fühlte sich wie in den Ferien. Das war gut so. Sie brauchte die Erholung dringend, und der Hund lenkte sie ab. Und dennoch:
»Das wird nicht gut gehen mit uns«, wiederholte Tante Tilly und warf das Stöckchen erneut.
»Mach, dass er auspackt«, hatte der Auftrag geheißen, »und töte ihn erst dann.«
Damit war der ganze Ärger losgegangen, denn es war nicht Tante Tillys Job, bestimmte Informationen zu beschaffen. Dafür war sie nicht ausgebildet.
Aber konnte man sich die Jobs aussuchen? Nein. Nicht mehr. Die Zeiten waren hart.
Früher hatte Tante Tilly eine feste Anstellung und bekam jeden Monat ihr Gehalt. Egal, ob es was zu tun gab oder nicht. Für die Informationsbeschaffung gab es besondere Einheiten. Man war insgesamt spezialisierter. Aber darauf wurde heutzutage kein Wert mehr gelegt. Inzwischen musste sich Tante Tilly als Freiberuflerin auf dem freien Markt behaupten. Die Konkurrenz war stark, die Auftraggeber wechselten, und das Geschäft war unübersichtlich geworden. Wer da überleben wollte, durfte nicht allzu wählerisch sein.
Die Zielperson hatte sich mit Hilfe einer Psychologin am Schwielowsee versteckt und wähnte sich sicher. Um die geforderte Information zu erhalten, musste Tante Tilly dem Ziel erst ins linke, dann ins rechte Bein und in den Bauchraum schießen. Völlig unsaubere Arbeit. Vergeudete Munition. Das Ziel jammerte und heulte. Es war ein verdammt schmutziger Job gewesen, und Tante Tilly hatte sich sehr unwohl dabei gefühlt.
Nicht, dass es sie emotional berührte, nein. Darum ging es nicht. In diesem Beruf durfte man keine Gefühle zeigen, egal was passiert.
Es war völlig normal, dass man zur Zielperson bei aller räumlichen Distanz eine enge Beziehung aufbaute. Man studierte ihr Leben genau, ihren Tagesablauf, die Gewohnheiten. Am Ende kannte man das Ziel besser als es sich selbst. Und dann brachte man es um. Kurz und schmerzlos.
Problematisch fand Tante Tilly an diesem Auftrag lediglich, dass sie das Ziel nicht sofort töten durfte. Klar und präzise. Mit nur einer Patrone. Stattdessen musste sie den Folterknecht spielen. Weil der Auftraggeber eine Information brauchte. Ekelhaft. Es war eine Tortur für beide Seiten, und Tante Tilly froh, als es endlich vorbei war.
Anschließend war sie mit dem Bus von Ferch aus zurück nach Potsdam gefahren, wo sie die Wannseebahn nahm. Diese nach der berühmten Haltestelle mit dem von Cornelia Froboess in den fünfziger Jahren so fröhlich besungenen Strandbad benannte S-Bahn-Linie führte quer durch Berlin. Tante Tilly benutzte grundsätzlich nur Busse und Bahnen. Öffentliche Massenverkehrsmittel machten den Einzelnen unsichtbar. Unauffälliger konnte man nicht unterwegs sein.
Sie hatte sich zurückgelehnt und in ihr Buch vertieft. Auf ihren Dienstfahrten bevorzugte sie grundsätzlich leichte Lektüre, etwas, wobei man sich nicht zu sehr konzentrieren musste. Diesmal war es ein trendiger Lifestyle-Roman eines von der Presse zum Popliteraten hochstilisierten Adeligen, der eine leichtfertige Liebesgeschichte in einer Hochglanzwelt beschrieb. Genau das Richtige zum Abschalten, wie Tante Tilly fand.
Während der abendlichen Fahrt durch das vornehme Zehlendorf blieben die Waggons zunächst recht leer. Erst ab Steglitz füllten sie sich allmählich mit jungen aufgekratzten Leuten auf dem Weg in die Innenstadt.
In Schöneberg stieg Tante Tilly aus und schminkte sich ab. Sie hatte hier etwas zu erledigen. Legendenbildung nannte sie das. Es war wichtig, dass man nach dem Job noch Termine und Zeugen hatte, allein schon wegen des Alibis.
Als sie weit nach Mitternacht und mit neuer Maske wieder in die S-Bahn stieg, waren nur noch ältere Nachtschwärmer und Partylöwen in Sektlaune im Zug, ab Potsdamer Platz füllten sich die Waggons wieder mit Touristen und jungen Leuten. Eine lautstarke, alkoholisierte Menge auf der Suche nach der nächsten Fete, dem angesagtesten Club, der ultimativen Orgie, dem heißesten Konzert, dem hemmungslosesten Drogentrip. In Berlin, dieser sich stets feiernden selbst ernannten Partyhauptstadt der Welt, ist immer für jeden etwas dabei.
Ab Gesundbrunnen wurde es im Zug spürbar leerer. Jetzt kamen
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