Mordspech (German Edition)
Boden. Der Dritte, das Mausgesicht, lag regungslos da mit eigenartig verdrehtem Kopf.
Tante Tilly wusste sofort, dass er tot war. Genickbruch, eindeutig. Das hatte sie drauf.
Die S-Bahn fuhr in einen hell erleuchteten Bahnhof ein. Hohen Neuendorf. Nichts wie raus hier!
Ohne ein weiteres Wort sprang Tante Tilly aus der S-Bahn und verließ zügig den Bahnhof, eine Station vor ihrem eigentlichen Ziel. Den Rest des Weges, da half alles nichts, musste sie zu Fuß zurücklegen. Eine Stunde durch die Nacht und immer an der S-Bahn-Strecke lang. Das war sehr ärgerlich, aber nicht zu ändern.
Und so war sie munter drauflosmarschiert, bis sie plötzlich hinter sich dieses eigenartige Geräusch vernahm. Ein Hecheln und Tapsen, wie von einem Tier. Verwundert sah sich Tante Tilly um. In respektvoller Entfernung, vielleicht vier, fünf Meter entfernt, folgte ihr der Kampfhund.
»Was willst du denn hier?« Tante Tilly schüttelte den Kopf. »Mach, dass du wegkommst!«
Der Hund setzte sich unterwürfig hin und legte den Kopf schief.
»Hau ab!« Tante Tilly wandte sich wieder um und lief weiter. Doch schon bald hörte sie erneut den Hund. Hechelnd folgte er ihr. Es war nicht zu fassen, aber er lief ihr immer weiter nach. Das konnte doch nicht wahr sein!
Tante Tilly blieb stehen und klaubte einen Schotterstein aus dem Gleisbett der S-Bahn-Strecke.
»Ich hab gesagt, du sollst verschwinden«, rief sie dem Hund zu und warf den Stein nach ihm. Der Hund jaulte auf und flüchtete seitwärts in die Büsche. Na also, es schien zu funktionieren.
Tante Tilly lief weiter. Kilometer um Kilometer. Und sie registrierte, dass sie nicht von der S-Bahn überholt worden war. Das bedeutete, dass der Zug noch immer in Hohen Neuendorf festgehalten wurde. Tja, ein Toter. Da werden sie wohl die Polizei geholt haben. Die Strecke dürfte bis auf Weiteres gesperrt bleiben.
Und dann gab es wieder dieses Geräusch. Das Hecheln des Hundes, die tapsigen Schritte. Unglaublich! Was wollte dieser Köter von ihr? Ruckartig fuhr sie herum.
Der Hund warf sich sofort auf den Rücken und streckte alle vier Beine in die Luft. Eine eindeutige Geste der Unterwerfung. Es gab keinen Zweifel, er hatte Tante Tilly als neues Frauchen erkoren. Denn sie hatte sein früheres Herrchen, das Mausgesicht, besiegt. Insofern verhielt sich der Hund völlig normal und folgerichtig. Ein Rudeltier folgt immer dem Stärksten. In der Wildnis ist das überlebenswichtig. Und Tante Tilly war gewissermaßen nun der neue Leitwolf. Ihm würde er folgen, komme was wolle. So lange, bis sich jemand als stärker als Tante Tilly erweisen würde.
Vielleicht hätte sie den Köter einfach abknallen sollen. Dann wäre Ruhe gewesen.
Doch das Töten von Tieren war ihre Sache nicht. Tante Tilly war auf Menschen spezialisiert. Und dieser Hund war recht jung und hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Ein völlig unschuldiges Tier, das lediglich Tante Tilly treu ergeben sein wollte.
Ich muss ihm zeigen, dass ich ihn nicht will, dachte sie angespannt. Ich werde ihn einfach ignorieren. Zügig war sie in Laufschritt verfallen, doch der Hund rannte ihr begeistert nach.
»Ich will dich nicht, du blöder Köter«, rief sie wenig später atemlos und warf verzweifelt einen Knüppel nach ihm. Was der Hund freudig als Spiel interpretierte. Er holte den Knüppel, apportierte ihn brav, wie es bei den Jägern heißt, und legte ihn Tante Tilly stolz vor die Füße. Dann bellte er sie auffordernd an und wedelte mit seinem knubbeligen Schwanz. Sie sollte den Knüppel noch mal werfen.
Alles war vergebens. Eine Weile lang hatte sie noch versucht, vor dem Hund wegzurennen. Was wenig Sinn machte, der Hund war locker schneller als sie und hielt sich leichtfüßig neben ihr. Als sie schließlich total erschöpft aufgab, hatte sich der Köter gerade mal warm gelaufen. So wurde das nichts. Erschöpft nahm Tante Tilly die graue Perücke ab und zog sich die alt machende Latexmaske vom Gesicht. Darunter war sie schweißnass. Sie hockte sich auf einen Stapel alter Gleisbohlen neben der Strecke und verstaute Perücke und Maske in ihrem City Bag. Dann versuchte sie es mit einem letzten Trick.
Sie ging die restlichen hundert Meter ganz besonders langsam nach Hause. Kurz davor verfiel sie dann in einen schnellen Sprint, rannte durchs Tor und knallte es rasch hinter sich zu.
Geschafft!
Der Hund war draußen. Jetzt musste sie nur noch warten, bis er verschwand. Irgendwann würde es dem Köter langweilig werden. Irgendwann würde
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