Mordspech (German Edition)
gelassen hat. Dann stoßen wir auf die wunderbaren neuen Erkenntnisse an, die wir heute gewonnen haben.«
Die Frage ist, was wir daraus machen, denke ich. Aber einen Schnaps kann ich jetzt auch gut gebrauchen.
33 ES WAR WIE DER BLICK durch eine Milchglasscheibe. Sehr helles Licht dahinter und dumpfe Stimmen. Nicht zu verstehen. Vielleicht eine Fremdsprache.
Dann ein Schatten. Nur langsam schälten sich Konturen heraus. Erst die Nase, ein ganz schöner Zinken, jedenfalls nicht schön. Die Augen darüber farblos, weder braun noch blau und auch nicht grün. Der Mund wirkte schmal. Aber vielleicht lag es daran, dass er von einem dichten Bart umrandet war. Er sagte etwas, dieser vollbartgerahmte Mund, wahrscheinlich eine Frage, sehr vernuschelt, doch nicht mehr ganz so dumpf.
Bitte?
»Können Sie mich verstehen?«
Ja, sicher, er war doch nicht taub. Kannte er das Gesicht? Schon möglich. Aber woher?
Vor seinen Augen blätterten sich Bilder ab wie Karteikarten. Lauter Passfotos, auch Frauen waren dabei. Aber Frauen waren wenig hilfreich. Frauen trugen keinen Bart, nicht normalerweise und nicht so voll. Auch hatten Frauen nicht so große Nasen mit riesigen Poren. Das war eindeutig eine Männernase in einem Männergesicht mit einem Vollbart. Es war Zeitverschwendung, sich auch die Frauen anzugucken. Die konnte er aussortieren, alles andere machte keinen Sinn.
Wer aber war der Mann? Jemand aus der Nachrichtenstelle? Irgendein operativer Vorgang? Oder gehörte er zur Hauptabteilung zwo?
Merkwürdig. Meyer konnte das Gesicht nicht zuordnen. Dabei hatte er doch ein erstklassiges Personengedächtnis. Dafür war er bekannt. Für seinen fotografischen Blick. Nein, hier stimmte etwas nicht. Achtung, unbekannter Eindringling! Alarmstufe Gelb!
»Können Sie mich hören?«
Welche Farbe haben Ihre Augen, Bürger? Ich kann Sie so unmöglich durch die Passkontrolle lassen. Ohne Augenfarbe geht das nicht. Wir müssen da insgesamt präziser werden, sonst droht Alarmstufe Rot. Und dann geht gar nichts mehr. Dann ist, salopp gesagt, Polen offen, oder etwas rustikaler ausgedrückt, die Scheiße am Kochen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Also geben Sie Ihren Augen besser eine Farbe, ich bitte Sie herzlich darum! Sonst heulen die Sirenen, und wir kommen nicht weiter.
»Ich bin Oberkommissar Thomas Hain von der Potsdamer Kriminalpolizei. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Ja, gute Frage, Herr Hain. Was war wohl passiert? Nachdenklich schloss Meyer die Augen.
»Hören Sie mich?«
Ja doch, verdammt noch mal! Laut und deutlich. Er dachte nur nach. Wie war die Frage doch gleich?
»Wer hat Ihnen das angetan?«
Was angetan?
»Sie haben viel Blut verloren und Schussverletzungen an den Beinen und im Bauch. Wir haben Sie aus dem Schwielowsee gezogen. Ich muss wissen, was mit Ihnen geschehen ist!«
Kein Zweifel, der Mann stand unter Druck. Wahrscheinlich hatten ihm die Ärzte nur ein paar Minuten gegeben. Man kennt das aus Filmen: »Darf ich mit ihm sprechen?« – »Ja, aber nur drei Minuten.«
Drei Minuten, in denen so ein Oberkommissar natürlich so viel wie möglich erfahren will. Sonst sind die Täter über alle Berge. Da kommt man nicht mehr nach.
Was also war geschehen? Meyer versuchte, sich zu konzentrieren. Er hielt nicht viel von Amnesie. Das wäre ihm peinlich. Zu nah am Wahnsinn. Amnesie bedeutete, dass man sich nicht erinnern kann. Dass das Hirn nicht mehr richtig funktioniert. Aber Meyer hatte ein gutes Hirn. Schon immer gehabt. Sein Gedächtnis funktionierte tadellos. Jedenfalls bis gestern. Und er wollte vor diesem Oberkommissar nicht dastehen wie ein Idiot, der dramatische Lücken hat.
Plötzlich fiel ihm Tante Tilly wieder ein. Er hatte sie zwar nicht gesehen, aber das war normal. Niemand hatte sie jemals gesehen, niemand wusste, wie sie aussah. Man kannte nur ihre Arbeit. Die war legendär, jedenfalls in speziellen Fachkreisen. Sehr präzise und immer tödlich. Insofern konnte Meyer von Glück reden, denn er lebte noch. Unter diesen Umständen war das so unglaublich wie ein Sechser mit Superzahl im Lotto.
»Hallo? Verstehen Sie mich? Sie müssen mit mir reden!«
Das würde Meyer ja, wenn er denn könnte. Vielleicht eine Störung im Sprachzentrum oder so. Da war möglicherweise etwas kaputtgegangen. Immerhin war auf ihn geschossen worden. Mehrmals. Erst in die Beine. Dann in den Bauch. Tante Tilly war gnadenlos. Sie wollte etwas wissen. Unbedingt.
Aber Meyer konnte es ihr nicht sagen. Weil er
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