Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
»Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass ein Polizist auf so einer Feier drauflosballert. Das war eine ganz exklusive Veranstaltung mit zweiSicherheitsleuten. Manche der Gäste verdienen im Jahr sechsstellige Summen, und da kommt dieser Polizist und schießt, nur weil jemand eine Spielzeugpistole bei einer Kostümparty trägt!«
Doch warum hatte Lee überhaupt die (Gummi-)Waffe gezogen? Vielleicht glaubte er, dass der siebenundzwanzigjährige Tarriel Hopper ein Gast war, der sich als Polizist verkleidet hatte. Lee hatte daher wohl wirklich auf Hopper gezielt – aber nur, um ein gespieltes Gefecht mit einem anderen Gast anzuzetteln, wie es Kinder und ausgelassene Menschen eben tun.
Die Frage, wie echt seine Gummiwaffe dabei aussah, stellte sich schon bald nicht mehr. Auf der Suche nach dem Hersteller zeigte sich, dass es sich um eine wirklich perfekte Kopie handelte. Der Lieferant berichtete, dass eine derartige Ausstattung nur für Filme verwendet wird. Bei Spielfilmgefechten tauscht man sie gegen die teuren, echten Theaterwaffen aus, damit diese nicht beschädigt werden. Deshalb müssen die Gummirevolver bis ins kleinste Detail so wie das Original aussehen. Das tun sie auch: Es handelt sich um Abgüsse der Originalwaffen. Jeder einzelne Gummihebel liegt daher genau dort, wo er sich auch an der echten Pistole befindet.
Das sah auch der Chef des LAPD so. »Es war ein tragisches Ereignis«, sagte er, »und ich spreche den Angehörigen des Toten mein tiefes Mitgefühl aus. Aber wenn jemand mit einer Polizeiuniform, einem Polizeiwagen und einem Polizeiabzeichen vor Ihnen steht, sollte die Situation klar sein. Sie müssen verstehen, dass wir – egal, ob bei einem Raubüberfall, im normalen Streifendienst oder einer Halloween-Party – nicht immer erst prüfen können, ob es sich um nachgemachte oder echte Waffen handelt.«
Damit hatte er sicher recht. Ein Problem blieb aber: Wie konnte ein Polizist einen Menschen, der mit dem Gesicht zu ihm stand, vier Kugeln in Rücken und Kopf jagen, und wie konnte das Opfer dabei auch noch stehen bleiben?
Ein Taktiker übernimmt
Die Familie von Anthony Lee nahm sich also einen Anwalt. Nicht irgendeinen, sondern Johnnie L. Cochran, gefürchtet wegen seiner zwar oft theaterhaften, aber auf die Jury wirksamen Taktik und ein steter Kämpfer für die Rechte dunkelhäutiger Menschen – unabhängig davon, ob sie Täter oder Opfer sind. In Deutschland wurde er vor allem durch die Verteidigung O. J. Simpsons bekannt. Dort hatte er sehr clever von den eindeutigen Tatortspuren abgelenkt und sich auf die Frage konzentriert, ob nicht einem schwarzen Mann von einem bekanntermaßen rassistischen weißen Polizisten des LAPD Unrecht getan worden war. Das hatte mit dem Fall zwar wenig zu tun, bewirkte im ersten Gerichtsverfahren aber immerhin einen Freispruch für den Sportler (vgl. M. Benecke,
Mordmethoden
, S. 264–283).
Cochran nahm sich nun der Sache an. Im Dezember reichte er seine Klage auf Zahlung von hundert Millionen Dollar gegen die Stadt Los Angeles ein. Solche Klagen sind bei Anwälten sehr beliebt, da die Städte
deep pockets
(tiefe Taschen mit viel Geld) haben. Das heißt, dass man von ihnen hohe Summen fordern – und manchmal auch erhalten – kann, weil es ja aus Steuergeldern bezahlt wird. Der Vorwurf lautete auf grobe Fahrlässigkeit und stützte sich vor allem darauf, dass kein Mensch derart viele Schüsse abgeben kann, besonders nicht mit einer Flugkurve, die um den Körper des Opfers herumläuft. »Ich sage nicht«, erklärte Cochran, »dass Hopper sich schon beim morgendlichen Aufstehen vorgenommen hat, jemanden zu erschießen. Aber er handelte fahrlässig und beachtete die polizeilichen Grundregeln nicht. Merkwürdig finde ich vor allem, dass das LAPD auch noch der Meinung ist, dass er so gehandelt haben soll, wie es in dieser Situation angemessen war.«
Im April 2002, also etwa eineinhalb Jahre nach der Erschießung, entschied die Staatsanwaltschaft in Los Angeles, Hoppernicht anzuklagen. »Das Ganze geschah so schnell, dass Hopper durchaus Angst um sein Leben haben musste«, hieß es in der Begründung. »Und er hatte nur einen Sekundenbruchteil, um sich zu überlegen, was er tun sollte. Da entschied er sich, seine Waffe zu ziehen und abzudrücken.«
Das sahen Cochran und die Schwester des Toten allerdings anders. »Die Polizisten haben sich doch selbst in Gefahr gebracht«, erklärten sie. »Und ob Anthony Lee gezielt hat oder nicht, weiß auch niemand. Der
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