Mordstheater
sie
plagte, hatte mir niemals vorgestellt, daß sie irgend etwas anderes war als das
leuchtend bunte, exzentrische, einnehmende Äußere, das sie der Welt zeigte.
Schließlich begannen mir Tränen die Wangen hinunterzurollen, die mir irgendwie
vorher nicht gekommen waren; um Agatha und um die Hilflosigkeit der Menschen.
Ich wischte mir das Gesicht ab. Ich hatte
abwesend auf die stattliche Reihe veröffentlichter Stücke in Agathas Regalen
gestarrt. Was ich vorher nicht registriert hatte — und was mich bei Agathas
Hang zur Schlampigkeit überraschte war, daß sie in alphabetischer Reihenfolge
angeordnet waren. Ich arbeitete mich von hinten, von Y (keiner der Namen ihrer
Klienten begann mit Z) im Alphabet nach vorne vor. Es müssen mehrere hundert
Bücher gewesen sein. Ich klappte den Bibliotheksstuhl auf, der sich in eine
Trittleiter verwandelte, und kletterte hoch, um die oberste Reihe zu
betrachten.
Plötzlich dachte ich, wie kleinlich ich war.
Agatha war die Sorte Agentin, die wirklich etwas bewegte. Autoren und
Schauspieler brauchten die Art Unterstützung, die sie so gut geben konnte. Ihre
Klientenliste anzusehen, war, als würde man eine geraffte Geschichte des
britischen und irischen Theaters der letzten dreißig Jahre lesen. Wenn sie es
sich ausgesucht hatte, sich dort hineinzustürzen, dann sollte ich sie
bewundern, statt sie zu kritisieren. Die Bibliothek der Theaterstücke war eine
ehrfurchtgebietende Grabinschrift. Falls ich plötzlich sterben sollte, dachte
ich, würde es überhaupt nichts geben, das mein Leben bezeugte. Noch nicht
einmal einen trauernden Partner. Wer war ich denn, um hier ein Urteil fällen zu
können? Ich begann, immer mehr zu weinen, bis ich fast hyperventilierte. Dann
stockte mir plötzlich der Atem, und ich hörte auf, wie das so ist. Ich hatte
das Gefühl, weiter weinen zu wollen, aber ich konnte nicht. Ich befand mich
direkt gegenüber dem blauweißen Keramikpferd, das auf dem obersten Regal stand.
Ich hatte es vielfach bewundert, während ich im Zimmer war und Agatha
telefonierte, aber ich hatte es nie aus der Nähe gesehen. Es war ein schönes
Objekt, wahrscheinlich türkischen Ursprungs. Seine Größe paßte fast perfekt zur
Tiefe des obersten Regals. Was ich von meiner üblichen Position unterhalb der
Regale nicht gesehen hatte, war, daß das Pferd auf einem dünnen Taschenbuch
stand. Langsam hob ich das Pferd an und zog das Buch hervor. Sein Einband war
mit Staub bedeckt, aber die charakteristische Penguin-Typographie mit ihrer
nüchternen schwarzen Schrift schimmerten durch. Der Titel lautete Die Haare
im Abfluß.
Ich wischte den Staub ab, stellte das Pferd
zurück und stieg die Stufen hinab.
Der Buchrücken brach, als ich das Buch öffnete,
und die Seiten rochen muffig. Ich begann zu lesen.
Das Copyright war von 1962, dem Jahr meiner
Geburt, und darunter merkte ein Satz an, daß man sich wegen der
Aufführungsrechte an Brown und Brown wenden solle.
In dem Stück gab es vier Charaktere: zwei
Frauen, Jemima und Bella, die sich ein großes Haus in Südlondon teilen, ihr
Diener und allgemeines Faktotum Sid, und Johnny, ein junger Mann aus Liverpool,
der in der ersten Szene ankommt, um sich ein Zimmer zu mieten.
Obwohl die Form der mehrerer anderer
Angry-Young-Man-Stücke sehr ähnlich schien, mit denen ich vertraut war — junger
Mann aus der Arbeiterschicht, zu intelligent und ehrgeizig für seine
Heimatstadt, verläßt sie, um vorwärtszukommen, und begegnet zwei Frauen, die
eine attraktiv, gewöhnlich älter, kultiviert und welterfahren, die andere
schön, unschuldig, garantiert Mittelschicht, und schließlich sein Ruin — , war
der Schauplatz viel schauerlicher und fantastischer, eine Art von >Norma
Desmond trifft Jimmy Porter in Dulwich Village<.
Ich stellte fest, daß mir die erste Szene Spaß
machte. Der Dialog knisterte. Die beiden Frauen, die sich beide offensichtlich
von dem rauhen, aber sehr gutaussehenden jungen Mann angezogen fühlten, fragen
ihn gnadenlos nach seiner Herkunft aus und äffen seinen Akzent nach. An einem
Punkt bemerkt Jemima in beiseite gesprochenen Worten Bella gegenüber: »Er ist
ziemlich unfertig, meinst du nicht? Sollen wir ihm den letzten Schliff
verpassen?«
Sie beschließen, ihm das Zimmer zu geben, obwohl
es unklar ist, warum er es noch wollen sollte, nachdem er derart in die Mangel
genommen wurde, sehr zum Verdruß von Sid, der die ganze Zeit über hinein- und
wieder hinausgeflitzt ist, Tee ausgeschenkt und die eine oder andere
Weitere Kostenlose Bücher