Mordsucht
zu Größerem berufen. Ich wollte Menschenleben retten, aber wie sich schnell herausstellte, wurden wir erst gerufen, wenn es schon zu spät war. Mit der Zeit lernte ich, damit umzugehen und Gewalttaten nicht zu sehr in mein Herz zu lassen. Ich begnügte mich damit, die Mörder, Vergewaltiger, Entführer und Erpresser dingfest zu machen und den Hinterbliebenen den Frieden zu bringen, den sie zum Weiterleben benötigten.
Ich sah mir Carmen genauer an. Zierlich, lange blonde Haare und ein Gesicht, in dem ich nichts Schlechtes erkennen konnte. Sobald sie aber den Mund aufmachte, zeigte sich, was für ein Charakter sich hinter der hübschen Fassade versteckte. Ich verstand nicht, wie sich jemand so auf einen Menschen fixieren konnte.
Ich spürte in Gedanken einen leichten Druck auf der Schulter, als sich das Teufelchen zu mir gesellte. »Und was ist mit deiner Abhängigkeit von Diana? Ist es nicht dasselbe?«
Natürlich nicht! Man konnte meine Beziehung zu ihr nicht mit dieser Sache vergleichen. Sollte sich herausstellen, dass Diana kein Interesse an mir hatte und es ihr unangenehm war, mit mir zusammenzuarbeiten, musste ich die Konsequenzen ziehen und mich versetzen lassen. Fertig. Basta. Das eine hatte nichts mit dem anderen zu tun. Ich verscheuchte das Teufelchen und atmete tief durch, als sich der Duft frisch gekochten Kaffees in meine Nase schlich.
Kaum hatte ich ihn gerochen, kam Leon mit zwei Tassen aus der Küche, gab mir eine davon und stellte sich neben mich.
»Danke.«
»Keine Ursache.« Er nickte in ihre Richtung. »Hat sie was gesagt?«
»Nein, sie starrt bloß auf den Fernseher und isst Gummibärchen, die Schüssel dürfte bald leer sein.« Ich nahm einen Schluck und wandte mich zu ihm. »Was genau ist passiert?«
»Meinst du mit ihr und mir?« Er seufzte und trank von seinem Kaffee. »Sie hat von Anfang an geklammert, ist mir überall hin gefolgt und hat mich mit Anrufen bombardiert. Nach vier Monaten hab ich es nicht mehr ausgehalten und mich von ihr getrennt.«
»Und sie hat es nicht verkraftet?«
»So kann man es sagen.« Er trat nervös von einem Bein aufs andere. »Und da ist noch was.«
»Was denn?«
»Ich bin bisexuell.«
»Ist doch nicht schlimm.«
»Für dich vielleicht nicht. Carmen kann es nicht ertragen, dass ich jetzt mit einem Mann liiert bin. Womöglich glaubt sie, sie hätte mir den Geschmack an Frauen verdorben.«
Ich konnte mir aufgrund der Tatsache, dass Carmen das Potenzial hatte, genau das bei einem Mann zu bewirken, ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. »Und? Hat sie ihn dir verdorben?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß seit meiner Pubertät, dass ich auf beides stehe.« Er stellte seine Tasse auf ein Schränkchen und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob das der Grund ist, warum sie derart ausflippt, aber ich hab sonst keine Erklärung für das Ganze …«
»Vielleicht finden es die Kollegen heraus.«
Er lächelte mich schwach an. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube, sie wird erst aufgeben, wenn ich sie zurücknehme oder tot bin.«
Ein Mord war nicht immer die Folge von exzessivem Stalking. Leider gab es Fälle, bei denen das Verlangen zu groß wurde und der Stalker sein Opfer lieber tötete als zu riskieren, dass jemand anderes als er selbst eine Beziehung mit der Person seiner Begierde einging. Ich konnte nur hoffen, dass es bei Carmen und Leon nicht so weit kam …
Die Türklingel riss mich jäh aus meinen Gedanken und ließ mich zusammenfahren. Der Kaffee schwappte gefährlich.
»Das muss die Verstärkung sein«, sagte Leon und ging zur Wohnungstür.
Ich stellte die Tasse auf das Schränkchen und sah zu Carmen. Sie saß weiterhin unbeeindruckt vor dem Fernseher.
Mein Nachbar drückte den Türöffner und ich hörte von unten schwere Schritte hallen. Der dritte Stock verlangte auch meiner Lunge alles ab. Meine Kollegen blieben trotz athletischem Äußeren ebenfalls nicht von einem asthmatischen Keuchen verschont, als sie die Wohnung betraten.
Ich kannte beide aus dem Revier. Die Beamten nickten mir zu und stürzten ohne Umschweife ins Wohnzimmer. Sie wussten, was zu tun war. Sie stellten sich neben die Couch und redeten ruhig auf Carmen ein. Ihren Job machten sie gut, dennoch führten ihre Bemühungen nicht zum gewünschten Ziel. Carmen spuckte sie an und schlug wild um sich, als meine Kollegen die Festnahme durchsetzten. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass sich ein zierliches Persönchen wie sie so
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