Mordswald - Hamburgkrimi
nur gesehen, wenn sie ihm die Tür aufgemacht hat, geredet hat er so gut wie
nie mit ihr." Ein älterer Mann schimpfte einer Radfahrerin hinterher, die
ihn beinahe gestreift hätte. Sein Wortschatz und Tonfall passte eher zu einem
Marktbetreiber am Hamburger Fischmarkt als zu diesem distinguierten Herrn mit
grauen Schläfen. "Wenn Holger Thies seit dreizehn Jahren tot ist, kann er
in den letzten zwei Jahren schlecht zwölf Unternehmensberatungen gegründet
haben."
Sie konnte es nicht sehen, aber sie glaubte zu wissen, dass
Max zustimmend nickte. "Wo steckst du gerade?", fragte er.
"An der Alster. Krugkoppelbrücke."
"Soll ich dich einsammeln, und wir reden noch mal mit
Vogler?"
Sie schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne.
"Klar", sagte sie. "Was soll ich sonst mit so einem langweiligen
Sommertag anfangen?"
Daniel Vogler saß bereits in einem der Vernehmungsräume am
Holstenglacis, blickte jedoch nicht auf, als Max und Lina eintraten. Anders als
gestern saß er zusammengesunken da und starrte die Tischplatte vor sich an.
"Herr Vogler, wie geht es Ihnen?", fragte Max.
Keine Reaktion.
Lina beobachtete den Mann aufmerksam, schließlich sagte sie:
"Herr Vogler, ich soll Ihnen Grüße von Frau Thies ausrichten."
Jetzt blickte der Mann auf. Sein hageres Gesicht war bleich,
die hellen Bartstoppeln ließen ihn älter wirken, als er war. Er sah Lina an,
sagte jedoch immer noch nichts.
"Sie hat mir von ihrem Sohn Holger erzählt, Ihrem
Freund." Behutsam wählte Lina ihre Worte. "Sie beschrieb mir seine
Krankheit. Dass er schon als Kind Probleme mit dem Laufen hatte." Sie
machte eine Pause. "Und schon früh auf den Rollstuhl angewiesen war."
Daniel Vogler hatte den Blick wieder gesenkt.
"Vor siebzehn Jahren war er sechzehn, ein Jahr älter als
Sie, und da saß er bereits seit mehreren Jahren im Rollstuhl." Sie schwieg
erneut. "Er kann an dem Abend des Überfalls gar nicht im Stadtpark gewesen sein, Herr
Vogler."
In Daniel Voglers Gesicht rührte sich nichts, doch mit dem rechten
Daumennagel begann er, sich am Zeigefingerknöchel der linken Hand zu kratzen.
Es war still, nur das leise Atmen der drei Menschen war zu hören.
"Bleiben Sie unter diesen Umständen bei Ihrer gestrigen
Aussage, Holger Thies sei das Opfer der Vergewaltigung durch Philip Birkner und
andere geworden, und nicht Sie?", fragte Max sanft.
Es schien zunächst, als würde Daniel Vogler auch weiterhin
keine Miene verziehen, doch dann schloss er langsam die Augen. Lina hielt den
Atem an. "Ich … ich weiß nicht. Wenn Sie das so sagen. Wenn Holgers Mutter
das sagt." Er holte Luft, nicht tief, nicht entschlossen, eher vorsichtig,
als wage er nicht, den endgültigen Schritt zu machen und sich seiner Erinnerung
zu stellen. "Aber es stimmt, ich kenne Holger eigentlich nur, wie er im
Rollstuhl sitzt. Selbst die Arme konnte er kaum noch bewegen, und irgendwann
konnte er nur noch mit dem Zeigefinger tippen." Er verzog den Mund, und es
dauerte einen Moment, bis Lina erkannte, dass er lächelte. "Deswegen hat
er sich ja so sehr für Tontechnik und Sprachsoftware interessiert, obwohl das
damals noch in den Kinderschuhen steckte. Mein Ding war das eigentlich nicht,
aber ich hab' ihm zuliebe mitgemacht und ihm immer die neuesten Sachen besorgt,
die auf den Markt kamen."
"Hat er mit dieser Technik auch das aufgezeichnet, was
er im Stadtpark mit angehört hat?", fragte Max.
Daniel Vogler schwieg eine Weile. "Ja. Anschließend hat
er die Aufnahme bearbeitet. Am Anfang war das nur ein einziges Rauschen, aber
Holger konnte die einzelnen Stimmen rausfiltern, und im Großen und Ganzen
konnte man am Ende ganz gut verstehen, was da passiert ist."
"Was geschah dann mit dieser Aufnahme?"
Zum ersten Mal sah Vogler Max direkt in die Augen. "Wir
haben sie benutzt, um uns zu schützen."
"Das heißt, Sie haben sie Philip Birkner und seinen
Freunden zugespielt?"
Daniel Vogler nickte erneut. "Wir haben
Kassettenaufnahmen gemacht, damals hatten ja noch nicht so viele Leute
Computer. Die haben wir der Clique per Post geschickt. Danach war Ruhe."
"Ist Holger Thies denn von Philip Birkners Clique
ähnlich drangsaliert worden wie Sie?" Max betrachtete den Mann aufmerksam.
"Ja."
"Woher kannte Ihr Freund denn die Clique? Er hat doch
wegen seiner Krankheit das Haus quasi nicht mehr verlassen."
Daniel Vogler runzelte die Stirn. Er schien angestrengt
nachzudenken, doch als ihm für diesen erneuten offenkundigen Widerspruch keine
Erklärung einfiel, begann sein
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