Mordswald - Hamburgkrimi
wiedergefunden. Philip wollte mich andauernd
küssen, und dann fing er auch noch an, mich anzugrabbeln." Sie schüttelte
den Kopf. "Ich bin vierunddreißig Jahre alt, und trotzdem hatte ich mir
eingebildet, ich könnte mit einem besoffenen Kerl nachts durch den Wald
spazieren, und wir würden uns ganz gepflegt über die Flora und Fauna
mitteleuropäischer Mischwälder unterhalten." Sie schüttelte erneut den
Kopf. "Wie dämlich kann man eigentlich sein?" Sie schwieg einen
Moment. "Als wir beim Aronstab angekommen waren, zeigte ich Philip die
Pflanze, aber er hat sich natürlich gar nicht dafür interessiert. Ich glaube,
irgendwann hat er gesagt: 'Komm, ich zeig dir meinen Stab', aber ich bin mir
nicht sicher. Aber er hat mich wieder geküsst. Hat mich an einen Baum gedrückt
und mich geküsst und seine Hand unter meine Jacke und meine Bluse und meinen BH
geschoben. Ich hab Nein gesagt und ihn weggestoßen, aber er hat es einfach
immer wieder versucht. Irgendwann war ich so wütend, dass ich ihm mit voller
Wucht ein Knie in die Eier gerammt habe."
Ohne hinzusehen merkte Lina, dass Alex bei diesen Worten
zusammenzuckte.
"Daraufhin hat er losgekotzt und ist zusammengeklappt.
Meine Hose hat ziemlich was abgekommen." Sie holte tief Luft. "Mann,
war ich wütend! Aber zugleich tat es auch so gut!" Sie sah Lina an.
"Verstehen Sie, was ich meine? Ich meine, es war nicht meine erste
Erfahrung dieser Art. Da ist ein Mann, er gefällt mir, wir unterhalten uns
nett, trinken was zusammen, und dann, kaum sind wir ungestört, spult das
Programm ab. Erster Schritt. Sanfte Küsse auf die Wangen. Zweiter Schritt.
Zungenkuss. Dritter Schritt. Titten testen …" Franziska Leyhausen wurde
rot und verstummte.
"Was haben Sie getan, nachdem Sie Herrn Birkner den
Kniestoß verpasst haben?", fragte Lina nach einer Weile leise.
"Ich bin nach Hause gegangen. Ich war mit dem Fahrrad
da, aber ich war zu betrunken, um zu fahren, und habe es den ganzen Weg
geschoben. Ich war ewig unterwegs, bis ich endlich zu Hause war. Ich wohne in
Barmbek, in der Jarrestadt", fügte sie hinzu, und das war in der Tat ein
ganzes Ende vom Niendorfer Gehege entfernt. Sie senkte den Kopf. "Als ich
Freitag in den Nachrichten hörte, dass Philip tot im Wald gefunden worden war,
kamen mir plötzlich Zweifel, ob mein Kniestoß wirklich so harmlos gewesen war.
Kann man an so etwas sterben? Klar, er hat noch gelebt, als ich gegangen bin,
das weiß ich ganz sicher, aber …"
Nachdenklich musterte Lina die Frau vor sich. Franziska
Leyhausen hatte angefangen zu weinen und wischte sich mit der Hand die Tränen
fort. Lina kramte in ihrer Schublade nach einem Taschentuch und schob ihr
gleich die ganze Packung rüber.
"Aber vermutlich würde er noch leben, wenn ich ihn nicht
einfach allein gelassen hätte, oder?" Sie schnäuzte sich.
"Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet,
sobald Sie von dem Toten im Wald erfahren haben?"
Franziska Leyhausen hob die Schultern. "Ich hatte Angst,
Sie würden mich verhaften. Ich hatte Angst, Sie könnten mir die Schuld an
Philips Tod geben." Sie schluchzte erneut. "Und irgendwie … bin ich ja
auch schuldig."
Im Empfangsbereich der Notaufnahme im Eppendorfer
Universitätskrankenhaus herrschte rege Betriebsamkeit. Gerade waren drei
Verletzte von einem schweren Verkehrsunfall eingeliefert worden, Ärzte und
Pfleger liefen eilig, aber angenehm unaufgeregt durch den Gang, auf den
Plastikstühlen im Wartebereich saßen Patienten, denen man zutraute, noch eine
Weile durchhalten zu können. Max Berg ging zur Anmeldung, zückte seinen Ausweis
und erklärte, er wolle mit dem Patienten Niels Hinrichsen reden.
"Reden wollen Sie mit dem? Na dann, viel
Vergnügen." Der Pfleger nannte ihm eine Zimmernummer, und Max wanderte
langsam den langen Gang entlang. Er hatte gerade die Hand erhoben, um
anzuklopfen, als sein Handy klingelte.
"Max, hier ist Lina." Er ging ein paar Schritte zum
Fenster, wo er ungestört war. "Die Leyhausen ist unsere Unbekannte aus der
Waldschänke. Außerdem kennt sie Daniel Vogler, den Kollegen von Frank
Jensen." Sie erzählte kurz, was Franziska Leyhausen bei der Befragung
bislang ausgesagt hatte.
"Und?", fragte Max, "behaltet ihr die Frau
da?"
"Wir sind noch nicht ganz fertig mit ihr." Lina
schwieg einen Moment. "Hanno will sie dem Haftrichter vorführen, aber für
mich klingt ihre Geschichte schlüssig. Ich glaube ihr."
"Dein Bauchgefühl funktioniert aber merkwürdig",
sagte Max.
Irritiertes Schweigen,
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