Mordswald - Hamburgkrimi
vorstellen, wie demütigend die Situation für
sie sein musste, und sagte: "Nein, es reicht, wenn Sie die Paare
einpacken, die infrage kommen." Leise fügte sie hinzu: "Ich kann es
leider nicht ändern."
Sie stopfte die Sachen, die alle frisch gewaschen waren, in
einen Plastikbeutel und kennzeichnete ihn für die Spurensicherung. Anschließend
warf sie selbst noch einen raschen Blick in die anderen Räume. Wenn sie ehrlich
war, war das eines der Dinge, die ihr an ihrem Beruf am besten gefielen: der
Blick in fremde Leben, fremde Welten. Als sie nach dem Abi angefangen hatte,
Ethnologie zu studieren, hatte sie sich genau das vorgestellt, aber nicht
gefunden. Hier in Franziska Leyhausens kleinem Wohnzimmer fand sie jedoch
nichts Fremdes, im Gegenteil. Genauso gut hätte sie in der Wohnung einer
Freundin stehen können, so vertraut war ihr der unkonventionelle,
zusammengewürfelte Einrichtungsstil, von dem dicken Wollteppich auf den
abgeschliffenen Holzdielen, den vielen Kerzen und Teelichtern überall bis hin
zu den Buchtiteln im Regal. In einer Ecke stand ein kleiner Holztisch mit einem
zugeklappten Laptop, an der Pinnwand darüber entdeckte sie eine Postkarte mit
dem Bild eines Hamsters, der einem großen Bagger die Zunge rausstreckt und
"Hihihi" sagte. Darunter stand in fetten roten Buchstaben: Kein
Industriepark auf der grünen Wiese . Lina musste grinsen. Sie hatte schon
davon gehört, dass irgendwelche vom Aussterben bedrohten Viecher immer mal
wieder den Bau von Gewerbegebieten oder Industrieanlagen verhinderten oder
zumindest verzögerten. Entweder verzichteten die Investoren dann auf die
Milliardenprojekte oder sie siedelten die possierlichen Tierchen für viel Geld um.
War eine Frau, der das Überleben von kleinen Feldhamstern wichtiger war als
Profite und Arbeitsplätze, tatsächlich in der Lage, einen Mann zu erschlagen?
Lina wusste, dass diese Spekulation müßig war. Grundsätzlich war jedem Menschen
alles zuzutrauen. Die Frage war nur, wie schnell jemand an seine Grenzen
geriet, so dass er oder sie keine andere Lösung mehr sah.
Bereits eine knappe Stunde später saßen Lina und Alex wieder
im Wagen. Über der Stadt zogen sich schon wieder dicke Wolken zusammen, wie so
oft in diesem Sommer. Noch war es trocken, aber für die Nacht waren weitere
Regenfälle angekündigt.
"Dieser Daniel Vogler war übrigens auf derselben Schule
wie Philip Birkner", sagte Alex unvermittelt, nachdem sie eine Weile
gefahren waren. "Ich habe mir heute Morgen die Akte Julia Munz zu Gemüte
geführt, der ermordeten Schulfreundin von Philip Birkner. In der Liste der
befragten Zeugen taucht der Name Daniel Vogler auf. Er hat im gleichen Jahr wie
Philip Birkner Abitur gemacht, obwohl er zwei Jahre jünger ist."
"Dann hat Birkner wohl ein oder zwei Ehrenrunden
gedreht."
Alex schüttelte den Kopf. "Nein, Vogler hat zwei Klassen
übersprungen. Aus den Akten geht allerdings nicht hervor, ob Birkner und Vogler
sich kannten. Das Humboldt-Gymnasium ist ziemlich groß, in dem Jahr haben mehr
als hundert Schüler ihr Abi gemacht."
"Kannte Vogler die Tote denn?", fragte Lina.
"Zumindest wohl flüchtig. Sie waren Nachbarn, mehr oder
weniger jedenfalls." Alex warf einen Blick in den Rückspiegel. "Aber
seine Aussage hat nichts ergeben. Er war weder auf der Party gewesen, die Julia
Munz vor ihrem Tod besucht hatte, noch zählte er auch nur zu ihrem näheren
Bekanntenkreis. Ob es wohl irgendetwas mit unserem Fall zu tun hat, dass
Birkner und Vogler beide auf derselben Schule waren?"
"Merkwürdig ist es schon, dass wir immer wieder auf
diesen Vogler stoßen", sagte Lina. "Er war in der Firma des Toten
angestellt, er ist mit einer möglichen Zeugin befreundet und er ist mit dem
Toten auf eine Schule gegangen. Vielleicht sollten wir den mal genauer unter
die Lupe nehmen."
"Ich glaube ja nicht, dass das was bringt",
erwiderte Alex. "Ich tippe auf die Leyhausen. Sie gibt zu, mit Birkner
zusammen im Wald gewesen zu sein, und sie gibt sogar zu, ihn geschlagen zu
haben."
"Getreten, nicht geschlagen", wandte Lina ein.
"Vermutlich hat sie ihn getreten und geschlagen. Birkner ist zudringlich
geworden, vielleicht sogar zudringlicher, als sie uns erzählt hat, und dann ist
sie einfach durchgedreht." Alex zuckte die Achseln, als er vor einer Ampel
langsam abbremste.
"Genauso gut hätte es auch Niels Hinrichsen gewesen sein
können", sagte Lina. "Er war ja ebenfalls zur Tatzeit im Wald."
"Und welches Motiv hatte der?", fragte Alex.
"Der kannte
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