Mordwoche (German Edition)
„Noch gibt es ein Zurück, Maus. Soll ich wirklich mitkommen? Meinst du nicht, das könnte alles ein bisschen zu viel werden für deinen Vater?“ „Nein, ich bin bereit und meine Eltern müssen da jetzt einfach durch.“ Susanne bog in das Wohnviertel ein, in dem die Merz’sche Villa stand. In dieser gutbürgerlichen Ecke Bärlingens wohnten die Besserverdienenden der Stadt und sie zeigten gern, was sie erreicht hatten. Da gab es Wohnträume mit Erkern und Giebeln, rustikale Landhäuser mit Jägerzaun und renovierungsbedürftige Relikte aus den 60ern. Susanne versuchte, ihre Straße mit den Augen einer Fremden zu sehen. Es war schon alles ziemlich ordentlich hier. Die Bürgersteige sauber, die Vorgärten akkurat bepflanzt und alle hielten sich an Tempo 30.
Wie anders lebten da Alex’ Eltern in Be rlin. Susanne hatte sich zwar aus Erzählungen schon ein Bild gemacht, aber dass Gerd und Anschi tatsächlich Alt-Hippies waren, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Sie fand es schon reichlich abgefahren, dass sie am Abend mit den beiden Alt-68ern auf dem Balkon saßen und gemeinsam einen Joint geraucht hatten. Die gleiche Szene musste sie sich in Gedanken mit ihren Eltern vorstellen. Susanne fuhr kichernd in die Einfahrt des elterlichen Hauses. Hier erwartete die beiden eine Gartenkomposition aus Rhododendron und Buchs, alles unter einer dicken Schneedecke verpackt.
„Ich freue mich, endlich deine Familie kennenzulernen. Du scheinst es wirklich ernst mit mir zu meinen.“ Alex beugte sich zu Susanne rüber und hielt ihr die Lippen zum Kuss hin. „Nicht hier, es können uns doch alle sehen.“ „Maus, ich will ja nichts sagen, aber du gehst jetzt langsam auf die vierzig zu. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig und mit wem du im Auto knutschst geht nur dich was an.“ Susanne atmete tief durch, Alex hatte Recht, wie so oft. „Wenn ich dich nicht hätte, komm her.“ Wie zum Trotz gab sie Alex einen ziemlich verwegenen Kuss, der jedem Zuschauer die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. „Das Gepäck lassen wir noch im Auto, Alex. Wir nehmen nur die Tasche mit den Geschenken mit.“
Elfi Merz öffnete die Tür. Mit großer Geste umarmte sie Susanne. Alex war fast versucht, sich umzudrehen und zu schauen, für welches Publikum die Autohaus-Gattin dieses Theater veranstaltete. Nachdem Susanne mit Küsschen links und Küsschen rechts begrüßt worden war, blickte Frau Merz fragend auf Alex. Susanne war dieses Begrüßungsritual offensichtlich schon gewohnt, denn sie war nicht weiter irritiert, sondern stellte ihre Begleitung vor. „Mama, dies hier ist Alex. Alex, das ist meine Mutter.“ „Freut mich sehr, Frau Merz. Vielen herzlichen Dank für die Einladung. Susanne und ich freuen uns sehr, dass wir Weihnachten hier zusammen verbringen können.“
Elfi Merz konnte man viel nachsagen, aber die Rolle ihres Lebens beherrschte sie perfekt. Ganz Dame des Hauses bat sie die Ankömmlinge erst einmal herein. „ Herzlich willkommen, ihr beiden. Katrin und Frank kommen auch gleich. Die Kinder freuen sich schon so sehr auf euch.“
Alex sah sich um , das Entree war großzügiger als erwartet und strahlte mit dem Marmorboden und den kleinen Kristall-Lüstern an den Wänden eine gediegene Geschmacklosigkeit aus. Arme Maus, gut dass du diesem Wohn-Alptraum entkommen bist, dachte sich Alex, als Pluto, der Rottweiler des Hauses müde um die Ecke schlich. „Ja, Pluto, alter Knabe, wie geht’s dir denn?“ Susanne hatte sich hingekniet und wuschelte dem alten Weggefährten liebevoll die schlabberigen Ohren. „Bitte geben Sie mir doch Ihren Mantel, Alex. Mein Mann kommt sicher jeden Moment runter.“ Und zu Susanne gewandt ergänzte sie noch: „Papa ging es nach dem Mittagessen nicht so gut und er hat sich ein wenig hingelegt.“
Pluto hatte ihn als erster gehört und lief schwanzwedelnd zur Treppe. Alex sah einen müden alten Mann. Jeder Schritt schien ihm Beschwerden zu machen. Früher musste Susannes Vater ein vitaler Mann gewesen sein, jetzt hatte er eingefallene Wangen und wirkte ausgezehrt. Auch Karl Merz hatte jetzt einen Auftritt, allerdings war er kein so perfekter Schauspieler wie seine Frau. Ihm merkte man die Schmerzen an, auch wenn er lachte, als er Pluto mit Susanne unten an der Treppe auf ihn warten sah. Alex schien es, als ob sich Susannes Vater aus dem Leben schlich. Unter Aufbietung der letzten Kräfte wollte er seiner Tochter allerdings zeigen, dass er immer noch der Vater war,
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