Mordwoche (German Edition)
Unterlippe. Eigentlich war es sinnlos, ihre Mutter nach ihrer Meinung zu fragen. Schließlich hatte sie gerade gezeigt, dass sie sich nicht im Geringsten auf die neue Situation geschweige denn auf Alex einstellen konnte. Kreuzfahrterlebnisse waren so ziemlich das letzte, was Alex interessieren dürfte! Oh je, hoffentlich war ihr Schatz nicht total abgeschreckt von ihrer Familie. Vielleicht hätte sie die Eltern doch besser auf das Zusammentreffen vorbereiten sollen.
„ Ja, Alex ist wohl ganz in Ordnung. Aber geht es dir wirklich gut, Schätzchen? Du hast ein paar Kilo zugelegt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du solltest wieder ein bisschen mehr auf deine Linie achten. Ich habe da einen tollen neuen Diät-Drink ausprobiert, den muss man nur...“ – „Ist schon ok, Mama. Ich habe alles im Griff.“ Susanne konnte ihre Schwester verstehen. Ihre Mutter war die Selbstbezogenheit in Person. Vielleicht war es Unsicherheit, vielleicht aber auch das wahre Wesen von Elfi. Susanne war froh, dass sie ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr im Merz’schen Dunstkreis in Bärlingen hatte. Ihre Welt war größer und der Besuch hier ein Gastspiel auf Zeit. Zum Glück!
„Und, wie geht es Papa wirklich? Ich habe das Gefühl, dass er mir am Telefon nicht immer ganz die Wahrheit sagt. Vorhin hatte ich den Eindruck, als ob der verdammte Krebs ihn wieder stärker in der Zange hat.“ „Ach Mäuschen, das ist wirklich nicht leicht für deinen Vater und mich. Er kann einfach nicht mehr so wie früher. Es macht mir nichts aus, viele Dinge zu übernehmen, aber in der Firma nutzen viele Mitarbeiter die Situation richtig aus. Der Chef ist in ihren Augen einfach Karl und wenn der öfter ausfällt, dann denken die Angestellten gleich, dass sie machen könnten, was sie wollten. Der eine macht früher Feierabend, der andere hat Extra-Wünsche was den Urlaub angeht und die Pausen werden immer länger. Und ich darf das dann ausbaden. Es ist natürlich unangenehm, die Truppe wieder zur Räson zu bringen.“
Susanne konnte es nicht fassen. Schaffte es diese Frau auch mal, irgendwann nicht nur über sich und ihre Probleme zu reden? Existierten in Elfis Welt überhaupt andere Menschen? „Das ist bestimmt nicht leicht für dich, das glaube ich gern. Aber was ist mit Papa? Wie geht es ihm?“ „Also vorgestern war Dr. Michael noch einmal da, um nach ihm zu sehen. Papa fühlte sich so schwach und elend, lag mit Fieber im Bett. Er klagte wieder einmal über Knochenschmerzen, wollte nichts essen. Dr. Michael konnte auch nichts für ihn tun, aber er meinte, dass die Krankheit jetzt wohl schneller voranschreite. Er hat Papa eine höhere Medikamenten-Dosis verschrieben.“ „Gibt es denn wirklich keine Therapie mehr? Die Medizin ist doch heute schon so weit!“ „Der Arzt hat zwar gemeint, dass man die chronische Leukämie ganz gut mit einer Stammzellentransplantation in den Griff bekommen könnte. Allerdings ist Papa dafür zu alt und sein Gesundheitszustand ist zu schlecht.“ „Und was heißt das jetzt im Klartext? Stirbt Papa bald?“ Susanne hatte Tränen in den Augen. Das entging selbst Elfi nicht und sie nahm ihre Tochter in den Arm. „Tja, Mäuschen. Das kann ich dir nicht sagen. Aber weißt du, Papa ist ein zäher Knochen. So schnell geht das mit dem Sterben nicht.“ Susanne wischte sich die Tränen ab. Es war ein komisches Gefühl für sie, von ihrer Mutter in den Arm genommen zu werden. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Elfi das zum letzten Mal getan hatte. Einfühlsame Nähe zu geben, war nämlich ganz und gar nicht ihr Metier und deshalb hatte Susanne noch nie bei ihrer Mutter nach Trost gesucht. Sie machte sich aus der Umarmung los. „Komm, die anderen warten bestimmt schon auf uns. Ich will eigentlich auch nicht in der Küche stehen und heulen. Papa hat sich so auf den Besuch gefreut.“ Elfi nickte und nahm das Tablett mit den kleinen Pumpernickel-Häppchen, Susanne die Sektflasche.
Im Wohnzimmer legten Katrin und Alex inzwischen zusammen mit den Kindern die Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Karl unterhielt sich auf dem Sofa mit seinem Schwiegersohn. Ein Großfamilienidyll wie aus dem Bilderbuch, dachte Susanne. Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, den Sekt höchstpersönlich zu entkorken und alle verfolgten mit Spannung, ob es ihm tatsächlich gelang, den festsitzenden Korken zu entfernen. Blass war ihr Vater heute und alt war er geworden. Susanne sah die kleine Schatulle mit der Zyankali-Kapsel unter
Weitere Kostenlose Bücher