Mordwoche (German Edition)
dem Weihnachtsbaum liegen. Schöne Bescherung! „Ich freue mich, dass ihr alle da seid! Weihnachten im Kreise der Familie ist doch einfach das Schönste!“ Karl schien guter Laune zu sein und den Lesben-Schock mittlerweile verdaut zu haben. „Ein herzliches Willkommen auch an Susannes Freundin, die dieses Jahr zu Besuch ist. Zum Wohl!“ Ihr Vater hatte da wohl etwas nicht ganz verstanden. Alex war kein spontaner Besuch, dem es an einer eigenen Familie mangelte und der froh war, Weihnachtsasyl im Hause Merz zu bekommen. Alex gehörte zu ihr, dachte Susanne. Sie sah zu ihrer Freundin hinüber, die ihr durch ein Kopfnicken signalisierte, dass alles in Ordnung sei und sie großzügig über die Bemerkung hinwegsehen solle. „Zum Wohl!“ Karl erhob sein Glas.
Das also war Susannes Familie. Alex hatte Susannes Zögern, sie ihren Eltern vorzustellen, immer akzeptiert. Sie wusste, dass das der schwerste Schritt überhaupt war. Schließlich hatten die eigenen Eltern ein ganz bestimmtes Bild von ihren Kindern. Auch wenn dieses nicht der Wirklichkeit entsprach, hatte es doch realitätsstiftende Kraft. Die Kinder waren so, wie die Eltern sie sahen. Viele wurden auch zu dem, was die Eltern in ihnen sahen. Der eigene Weg kostete Zeit, das wusste Alex nur zu gut. Zum Glück konnte sie sich ihren Eltern früh anvertrauen. Anschi und Gerd lebten getreu dem Hippie-Motto „Make love not war“ und so nahmen sie die Lebensgefährtin ihrer Tochter mit offenen Armen in ihrer Kiez-Kommune auf. Ihre Eltern lebten in einer komplett anderen Welt, das wurde Alex im Hause Merz einmal mehr bewusst. Wie konnte man sich nur eine Schrankwand aus Eiche ins Wohnzimmer stellen? Aber irgendwie waren sich Susannes Eltern auch treu. Schrankwand im Wohnzimmer und Vorurteils-Schubladen im Kopf! Das passte doch wunderbar zusammen! Alex war nicht entgangen, dass Susannes Vater sie immer wieder musterte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Eine junge erfolgreiche Frau, die so gar nichts Weibchenhaftes an sich hatte und die ihm als Lebensgefährtin seiner Tochter präsentiert wurde, passte nicht in sein Weltbild. Sein Entsetzen nahm Alex ihm nicht übel. Karl Merz hatte nicht mehr viel Zeit, das konnte man sehen. Und was ihm noch vom Leben blieb, sollte er so verbringen, dass es ihm Seelenfrieden gab. Und wenn dazu gehörte, dass er in Alex nur eine spontane Begleitung seiner Tochter sah, würde Alex die Letzte sein, die ihm das ausreden würde.
„Und jetzt haben Marie und Lukas noch etwas ganz Besonderes für uns vorbereitet, nicht wahr? Setzt euch mal alle hin.“ Elfi Merz ignorierte den verärgerten Blick von Katrin einfach und nahm auf dem Sofa Platz. Immer musste es nach der Pfeife ihrer Mutter gehen! Konnte sie nicht einmal ihren Wunsch respektieren? Katrin verkniff sich einen bissigen Kommentar, sie wollte vor ihrem Vater und den Kindern keine Auseinandersetzung provozieren. Karl war ein passionierter Opa, der sofort einen Notenständer für Lukas improvisierte und Marie den Hocker für die Heimorgel richtig einstellte. Susanne setzte sich zu Alex aufs Sofa und flüsterte ihr ins Ohr. „Alles ok bei dir? Ist es sehr schlimm?“ „Maus, mach dich mal ganz locker. Mir geht’s gut.“
Karls Augen leuchteten, Familie war sein Lebenselixier. Er war zwar immer noch schwach, aber er strahlte eine innere Ruhe und Zufriedenheit aus, als er der Darbietung von „Oh Tannenbaum“, „Es ist ein Ros’ entsprungen“ und „Stille Nacht“ lauschte. Nur zwei kleine Hänger sorgten zwischendrin für ein Luftanhalten bei Katrin, aber ihre Kinder brachten das Ständchen gut hinter sich. Mit roten Backen und glühenden Ohren verbeugten sich Marie und ihr kleiner Bruder vor ihrem Publikum.
„Das habt ihr ganz wunderbar gemacht, ihr beiden. Wenn ich euch in meiner Nähe habe, dann geht es mir gleich viel besser. Ihr seid meine beste Medizin!“ Karl war aufgestanden und drückte seine Enkel an sich. Denen war so viel Aufhebens um ihre Person ein wenig unangenehm . Marie und Lukas waren froh, sich bis zur Bescherung wieder zum Spielen zurückziehen zu dürfen. „Heute geht es mir gut, heute seid ihr da. Da brauche ich keine Pillen.“ Das war Susannes Stichwort. Sie holte das kleine Schächtelchen unter dem Weihnachtsbaum hervor und stellte es auf den Tisch. „Das wolltest du zurückhaben.“ Karl nahm die Schatulle in die Hand und schaute fragend zu Katrin und seiner Frau. „Habt ihr eure auch dabei?“ „Unsere steht doch oben im
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