Mordwoche (German Edition)
Merz hatte die Tür hinter sich zugemacht. Er musste nicht abschließen, die geschlossene Tür im Arbeitszimmer, das war ein ungeschriebenes Gesetz, sicherte dem Hausherrn seine Ruhe. Der alte Mann ließ sich auf dem breiten Ledersofa nieder, das im hinteren Teil des Raumes stand. Hier hatte er schon so manche Nacht verbracht, zum Beispiel wenn es bei einem Treffen des Gewerbevereins wieder einmal später und alkoholischer wurde als geplant. Um seine Frau im gemeinsamen Schlafzimmer nicht zu stören, war der Autohaus-Chef dann von der Eingangsdiele gleich rechts in sein Arbeitszimmer abgebogen.
Jetzt rutschte er so weit auf der Sitzfläche der Couch nach vorn, dass er den Kopf auf die gepolsterte Rückenlehne legen konnte und machte die Augen zu. Sein Bauch schmerzte. Wieder das Drücken im Oberbauch. Milzschwellung, hatten ihm die Ärzte gesagt, gehöre mit zu den typischen Symptomen der chronischen Leukämie. Karl Merz machte den Hosenknopf auf, vielleicht würde der Schmerz dadurch besser. Der Nachmittag hatte ihn sehr mitgenommen. Jede Anstrengung, körperlicher oder psychischer Art, beantwortete sein Körper mittlerweile mit Schmerzen.
Sein Leben lang war Karl Merz ein gesunder Mann gewesen. Einen Arzt hatte er nur aufgesucht, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Die Vorsorgeuntersuchungen waren ihm lästig und unangenehm gewesen. Zum Arzt war er erst gegangen, als er merkte, dass er immer schwächer wurde. Er verlor an Gewicht und fühlte sich nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Anfangs dachte er noch, dass jetzt das Alter begänne, von dem immer alle sagten, dass es kein Zuckerschlecken sei. Als er dann aber nachts immer öfter schweißgebadet aufwachte und starke Knochenschmerzen bekam, machte ihm seine Frau einen Termin bei seinem Hausarzt Dr. Michael.
Karl Merz fand keine Erleichterung in dieser Position und streckte sich nun doch ganz auf dem Sofa aus. Er fühlte sich elend. Es war Heilig Abend, er hatte sich so auf die Familie gefreut und jetzt lag er allein in seinem Arbeitszimmer statt bei der Bescherung in die leuchtenden Augen seiner Enkel zu schauen.
Er wusste, dass er nicht mehr auf eine Heilung hoffen konnte. Das hatte ihm sein Arzt unmissverständlich klar gemacht. Aber er wollte die Zeit, die ihm noch blieb, egal ob sie kurz oder lang war, genießen. Kraft schöpfte der kranke Mann aus dem Zusammensein mit seinen Kindern und Enkelkindern . Die Familie war seine Medizin. Ihre Gegenwart machte die Schmerzen erträglich und wenn ihn die Verzweiflung überkam, dann tröstete ihn der Gedanke, dass etwas von ihm nach seinem Tod weiterlebte. Seine Kinder und Enkelkinder würden nicht nur seine Firma weiterführen, sondern sie würden sich auch an den Menschen Karl erinnern, der ein strenger und vielleicht nicht immer ausreichend anwesender Vater, dafür aber ein ungeheuer passionierter Großvater gewesen war. Die Liebe seiner Enkel machte ihm den Gedanken an den Tod einerseits erträglich, andererseits sorgte sie dafür, dass sein letzter Gang die größte Herausforderung seines Lebens war.
Dr. Michael hatte Karl Merz vor den Feiertagen noch einen Hausbesuch abgestattet, weil der sich so schwach fühlte, dass er das Bett nicht verlassen konnte. Der Arzt hatte dem Kranken fiebersenkende Medikamente verschrieben und stärkere Schmerzmittel. Als Chef des Autohauses wie auch als Patient wollte Karl Merz genau über Haben und Soll informiert sein und so hatte ihn sein Hausarzt darüber aufgeklärt, dass sich die Leukämie jetzt nicht mehr in der chronischen Phase befände, sondern dass jetzt alle Symptome auf die Akzelerationsphase hindeuteten, in der sich die Krankheit rasch verschlechtere. Die schlechten Blutwerte des Patienten bestätigten diese Diagnose.
Karl starrte an die Decke. Was blieb ihm jetzt, am Ende seines Lebens? Mit den Schmerzen konnte er sich schon irgendwie arrangieren, als letzter Ausweg blieben schließlich noch die Zyankali-Kapseln. Die Furcht vor dem Tod machte er mit sich selbst aus, schließlich konnte niemand wirklich verstehen, wie es ihm ging. Seine Familie nahm zwar Anteil und umsorgte ihn, aber die Krankheit steckte nun mal in seinem Körper. Er war mit dem Krebs allein.
Karl Merz gingen viele Gedanken durch den Kopf. War seine Familie überhaupt noch seine Familie? Seine Töchter Susanne und Katrin waren für ihn immer wichtiger geworden, je älter er wurde. Früher hatte er sich nicht in die Kindererziehung eingemischt, seine drei Damen hatten
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