Mordwoche (German Edition)
Kunden zu, der bereits auf einem der Friseur-Sessel vor dem Spiegel Platz genommen hatte. Als Gerda König die zwei Stufen zur Damenabteilung hinunterstieg, sah sie, dass sowohl die wartenden Kundinnen, als auch ihre Mitarbeiterinnen gebannt in Richtung Herrensalon schauten. Verwundert drehte sich die Chefin um und sah im Spiegel ein Bild von einem Mann. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Otto jemals einen so attraktiven Kunden bedient hatte. Ob dieser dunkelgelockte Adonis ahnte, dass er der weiblichen Kundschaft und der halben Belegschaft den Atem raubte? Aber weder sie noch die Kundinnen waren da, um gedankenverloren in der Gegend herum zu starren. Gerda König wandte sich resolut ihren Kundinnen zu. „Welche der Damen kommt denn als erste dran?“
„Schlimm, das mit der Frau Merz, gell?“ Die junge Frau hatte bereits den Frisier-Umhang an und Gerda König begann mit der Arbeit. Bei ihren Kundinnen gab es heute tatsächlich nur ein Thema. Schöner Mann hin oder her. „Ja, da haben Sie Recht. Ich habe heute Morgen schon Ihrer Mutter erzählt, dass ich die ganze Sache so furchtbar finde. Haben Sie die Frau Merz gekannt?“ „Gekannt ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Ihre ältere Tochter Susanne war bei mir in der Klasse. Die hat ganz schön unter ihrer Mutter gelitten, wenn Sie mich fragen. Das habe ich mitbekommen, auch wenn ich nicht direkt mit ihr befreundet war. Ihre Eltern waren viel zu wenig zu Hause, mittags hat nur die Haushälterin auf Susanne und ihre Schwester gewartet. Und das hat man den Mädchen auch angemerkt. Die mussten einfach immer funktionieren. Kompensiert wurde die fehlende Aufmerksamkeit dann mit Taschengeld oder Geschenken. Die anderen in der Klasse waren ziemlich neidisch auf Susanne, weil die immer so tolle Klamotten hatte und so weiter. Für die Merz-Töchter war es aber schwer, den Ansprüchen ihrer Mutter zu genügen.“ Gerda König schaute die junge Frau im Spiegel an. „Das hört man öfter, dass es gerade die Mütter und Töchter nicht immer leicht miteinander haben.“ „Ja, und deshalb finde ich es auch ganz wichtig, dass jeder seinen eigenen Weg geht. Bei mir war das zum Beispiel der Absprung von zu Hause. Die Susanne ist auch direkt nach dem Abi weggegangen; nach Berlin, glaube ich. Ihre jüngere Schwester ist nach der mittleren Reife in Bärlingen geblieben und arbeitet im Autohaus der Eltern. Das könnte ich nicht. Das wäre mir einfach zu eng.“
Neue Gesichter sah man im Salon König nicht allzu oft. Man kannte sich in Bärlingen und so empfand Otto König es als angenehme Abwechslung, heute endlich einen Kunden zu bedienen, der nicht extra gekommen war, um ihn über die Tote vor seinem Salon auszufragen. Der Friseur wusste bereits, dass der junge Mann ein waschechter Italiener war, nicht so ein Italo-Schwabe wie der Venezia -Adriano und dass er einige Zeit in Deutschland als Kellner gearbeitet hatte. Otto packte die Gelegenheit beim Schopfe und wollte sich Reisetipps aus erster Hand besorgen. Vielleicht wäre Italien das richtige Ziel für Gerda und ihn. Die Urlaubs-Erholung würden sie auch bitter nötig haben, wenn es im Salon in den nächsten Tagen so weitergehen würde wie heute. Sobald es sich erst einmal in der ganzen Stadt herumgesprochen hatte, dass sie quasi in einen Mordfall verwickelt waren, dann würden ihm die Leute hier die Bude einrennen, da war sich Otto ziemlich sicher. Leider erwies sich sein Gesprächspartner nicht als einfallsreicher Reiseratgeber. Auf Venedig als Reiseziel wäre Otto König auch alleine gekommen. Der Fremde schien sich dagegen sehr für das Leben in der schwäbischen Kleinstadt zu interessieren. Dass die Leute zum Teil auch von weither anreisten, um die sehenswerten Kirchen hier zu besuchen, das wusste der Friseur, aber dass die Touristen jetzt schon kamen, um sich ihre Friedhöfe anzusehen, das überraschte Otto König dann doch. Und genau deshalb schien der Fremde hier in der Stadt zu sein. Es gab schon seltsame Menschen!
„Meine Mutter glaubt, dass es jemand aus dem Autohaus war, der die Frau Merz umgebracht hat.“ „Ach ja? Warum?“ „Der Nachbar meiner Eltern arbeitet dort. Da soll es in letzter Zeit ordentlich Stress mit den Mitarbeitern gegeben haben, weil die Chefin den Laden komplett umkrempeln will.“ Gerda König hätte jetzt gern das Thema gewechselt. Was sollte sie auch sagen zu den Spekulationen um den mysteriösen Todesfall der Autohaus-Gattin? Vielleicht würde das Gespräch im
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