Mordwoche (German Edition)
hatte. Karl fühlte einen heißen Stich in der Herzgegend. In seiner Ältesten sah sich Karl Merz so oft selbst. Die Unbeirrbarkeit, mit der seine Tochter ihren Weg ging, entsprang der gleichen Entschlossenheit, die sich bei Karl allerdings oft in einer Verbissenheit zeigte. Ebenso wie er hatte auch Susanne lang suchen müssen, um ihr Glück in der Liebe zu finden. Aber musste es denn unbedingt eine Frau sein? Karl nahm einen der Bilderrahmen zur Hand. Das Foto zeigte Susanne und ihn bei der Geburtstagsfeier zu seinem Sechzigsten. Damals war die Welt noch in Ordnung. Und jetzt war Susanne schwanger und wollte heiraten. Sie wirkte so glücklich heute, als sie uns ihre Neuigkeiten verkündete, dachte Karl. Er war sich nicht mehr sicher, ob ihm seine heftige Reaktion nicht leid tun sollte. Er hatte ganz intuitiv, aus seinem Gefühl heraus gehandelt, ohne groß nachzudenken. Aber musste es denn wirklich eine Frau sein? Natürlich musste Elfi gleich Partei ergreifen. Was auch sonst? Wollte sie ihm so zeigen, dass er im Unrecht war? Wollte sie ihm seine Tochter nehmen? Susanne würde immer sein großes Mädchen blieben, egal was Elfi behauptete. Niemand würde einen Keil zwischen ihn und seine Tochter treiben können. Das schaffte selbst Elfi nicht. Denn auch wenn er nicht der biologische Vater war, der emotionale war er dagegen umso mehr.
Elfi hatte mit ihrem Geständnis das ganze gemeinsame Leben mit einem Schwung vom Tisch gefegt. Das anfangs noch unbestimmte Gefühl wurde zur schmerzenden Gewissheit. Nichts anderes hatte Elfi vorhin getan. Ihre Familie, die sie einmal waren und die Ehe, die sie führten, existierten nicht mehr. Der Kranke fühlte sich um sein Leben betrogen. In seinem Zustand sah er nicht mehr viele Möglichkeiten, auf Elfis Geständnis zu reagieren. Wie so oft in letzter Zeit wurde Karl Merz bewusst, dass seine Zeit langsam aber sicher ablief. Das Leben würde ohne ihn weitergehen. Es machte keinen großen Unterschied, ob er da war oder nicht. Elfi würde ohne ihn weiterleben, vielleicht sogar glücklicher. Dazu hatte sie kein Recht, dachte Karl Merz. Reichte es nicht, dass er jahrelang ihre Eskapaden ertragen und keine Fragen gestellt hatte? Musste sie ihr gemeinsames Arrangement des Schweigens brechen, um ihm diese Verletzung zuzufügen?
Karl fühlte eine Woge kalten Hasses in sich aufsteigen. Das hätte sie nicht machen dürfen! Irgendwann war Schluss! Er musste reagieren. Elfi hatte ihn vor der gesamten Familie verhöhnt und ihm seinen einzigen Trost im Kampf gegen die Krankheit genommen. Mit ihrem Geständnis, das eher den Charakter einer Anklage gehabt hatte, hatte sie ihm die Chance genommen, dem immer näher rückenden Tod und der damit verbundenen Angst etwas entgegenzuhalten. Die Freude am Familienglück war zerstört. Sein Wissen um den Seitensprung seiner Frau änderte zwar nichts an den Gefühlen zu seiner Tochter, aber der Betrug und die Lüge würden wie der Krebs an seinen Lebenskräften nagen. Seine Familie würde für Karl Merz nicht mehr das sein können, was sie früher war. Elfi hatte ihren Mann an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Karl Merz stöhnte leise auf, presste die Hand auf seinen Bauch und musste sich setzen. Diese Schmerzen wurden immer schlimmer! Karl Merz schloss für einen Moment die Augen und im Geiste sah er die Szene im Wohnzimmer noch einmal deutlich vor sich. Wie Elfi ihm die Affäre an den Kopf warf. Sie schien ihren Auftritt richtig zu genießen. Wie konnte man nur derart bösartig sein? Und so wie sich sein Ärger über Susanne und ihren Lebensentwurf verflüchtigte und einer Milde wich, so breitete sich die Verachtung für seine Frau immer weiter in seinem Herzen aus. Mit kaltem Hass sah er ihr Bild auf seinem Schreibtisch an und klappte den Bilderrahmen um. Er konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Was Elfi getan hatte, machte man nicht ungestraft mit ihm! So schwach war er nicht, dass er so mit sich umspringen ließ. Auch wenn sein Körper rebellierte und ihn für die Aufregung des Nachmittags strafte, eine Ruhepause konnte er sich jetzt nicht gönnen. Er musste handeln! Karl Merz schaute auf die Uhr. Es war noch zu früh. Wenn er jetzt anrief, würde er mitten in die Bescherung platzen.
Karl Merz dachte an seine Enkel. Er hatte vom Fenster aus beobachtet, dass Katrin mit ihrer Familie aufgebrochen war. Hoffentlich hatten Marie und Lukas trotz allem noch eine schöne Bescherung.
Jetzt sollte er also noch einmal Großvater werden.
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