Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
einen Reiter gab es keine andere Route. Sie konnte nicht hoffen, ihn auf seinem schönen langbeinigen Pferd etwa einzuholen, nicht nachdem beide die eigentliche Straße erreicht hatten; doch tief im Innern hoffte sie, daß er mit ihr rechnete, daß er vielleicht auf sie wartete — daß sie seine Führerin durch die Schrecknisse des gewaltigen Sumpfes werden konnte.
Doch schon verblaßte sein Bild in ihrer Erinnerung, eine Vision, die in die Dunkelheit gehörte, während die Dinge nun weiß und grau waren. Nur die Möwenfigur an ihrem Herzen und der Dolch mit dem Knochengriff im Bund des Rockes bewiesen, daß es ihn je gegeben hatte und daß sie auf nüchterne Weise ihren Verstand beisammen hatte — mehr als ihre Sippe.
In ihrer Vernunft erkannte sie auch, daß sie sich Ärger einhandelte, daß sie sich in die Hände von Sumpfbewohnern oder schlimmeren Leuten begab, die wie ihre Cousins erfahren würden, daß sie Träume erlebte, die sie daraufhin hassen würden, wie die Chadrih-Bewohner sie haßten, sie, Ewons absonderliche Tochter. Dennoch schienen die Schrecknisse, die die Alpträume ihr vermittelt hatten, an diesem Morgen hinter ihr zu liegen, schienen über der Barrow-Feste zu liegen mit einer Dichte, die ihr ein Atmen unmöglich machte. Dort war der Tod; sie spürte ihn nahe, nahe und auf der Lauer. Fern von der Barrow-Feste winkte die Befreiung von diesem Druck, er wurde geringer, je weiter sie ritt... nicht nach Aren, nicht in der Hoffnung auf jenes Leid in ständiger Reichweite von Fwar. Sie bildete sich lieber ein, daß sie nach Shiuan reiste, wo es reiche und sichere Siedlungen gab, wo die Menschen das Hiua-Gold besaßen. Dieses Ziel zu erreichen war nicht so wichtig wie der Umstand, jetzt aufzubrechen, gerade jetzt: der Drang lag ihr im Blut wie die Hitze des Fiebers, außerhalb jeder Vernunft.
Socha hatte gelächelt, als sie an jenem Morgen zum letztenmal aus ihrer Mitte aufbrach; Jhirun wußte noch, wie sie in Sonnenschein getaucht war, in ein Licht, in das das Boot von der Anlegestelle aus hineinglitt: Socha hatte dieselbe Abreise gewählt, zur Zeit des Hnoth, wenn die Sinne sich mit dem steigenden Wasser in den Kanälen verwirrten. Jhirun ließ den düsteren Gedanken freien Lauf, die sie bisher stets vertrieben hatte — ob Socha wohl lange gelebt hatte, während sie auf das große graue Meer hinausgetragen wurde, wie es wohl gewesen war, auf endlosem Wasser zu treiben, welche scheußlichen Ungeheuer wohl nahe dem zerbrechlichen Boot ihre Spielchen getrieben hatten, und in welcher Verfassung Socha ihr Ende gefunden hatte — ob sie um die Barrow-Feste geweint hatte und um ein Leben, wie Cil es gewählt hatte. Jhirun nahm es nicht an.
Sie zog die Möwenfigur zwischen ihren Brüsten hervor. Nun konnte sie das Gebilde bei Tageslicht betrachten, in der Gewißheit, daß niemand es ihr nehmen würde; und sie dachte an den König unter dem Hügel und den Fremden — der selbst von einem Alptraum beflügelt wurde, wie sie ihn auch erlebte.
Der weiße Reiter, der blonde Reiter, die Frau hinter ihm: Tag und bleicher Nebel, so wie er dem Dunklen entgegenneigte. In der Nacht hatte Jhirun seine Worte erschaudernd vernommen und hatte an weiße Federn gedacht und an die Last auf ihrem Herzen, die siebente und übelwollende Macht — die ihn einmal gebannt hatte, bis ein Barrow-Mädchen einen Ort aufsuchte, der ihr eigentlich verboten war.
Die Möwe schimmerte kalt in ihrer Hand, die Flügel waren ausgebreitet; ein Gebilde von uralter und unheimlicher Schönheit, Emblem der Leere am Rand der Welt, über den nur die weißen Möwen strichen wie verlorene Seelen: Morgen-Angharan, die die Sumpfbewohner verwünschten, der die Könige in die Vernichtung gefolgt waren — die weiße Königin, die den Tod bedeutete. Eine bohrende Angst drängte Jhirun, das Amulett weit in den Sumpf zu schleudern. Der Hnoth rückte herbei, wie damals für Socha, eine Zeit, da Erde und Meer und Himmel verrückt wurden und die Träume kamen und sie an Orte trieben, die kein vernünftiger Mensch aufsuchen würde. Aber ihre Hand schloß sich fest um die Figur, nahm sie in Besitz, und nach einiger Zeit schob sie sie ins Wams zurück.
Sie vermochte nicht zu erkennen, was sich im Nebel ringsum verbarg. Die Hufe des Ponys hallten zuweilen auf nacktem Stein wider, plätscherten oft durch Wasser oder stapften durch festen Matsch. Die vagen Umrisse der Hügel ragten in der schweren Luft auf und wanderten langsam vorbei wie die Windungen einer
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