Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
suchst«, fuhr Bydarra fort, »sollst du sie haben. Außerdem Nahrung, Kleidung — was immer ihr braucht. Ohtij-in wird dir Gastfreundschaft für die Nacht gewähren.«
»Und morgen früh ein offenes Tor?«
Bydarras Gesicht blieb unbewegt; er ging auf den Stich nicht ein, ließ sich dadurch aber auch nicht aus der Ruhe bringen. »Wir sind verwirrt«, fuhr er fort. »Und solange wir dermaßen verwirrt sind, bleiben die Tore geschlossen. Zweifellos lassen sich die offenen Fragen sehr schnell klären. Wir werden auf den Straßen nach der Lady Ausschau halten, von der du gesprochen hast — und für dich gibt es Gastfreundschaft für eine Nacht.«
Vanye neigte kaum merklich den Kopf. »Mein Lord Bydarra«, sagte er, und seine Stimme war so leise, daß die Worte fast nicht zu verstehen waren.
Wieder bewegten sie sich durch den gewundenen Korridor und weiter nach oben. Vanye behielt Jhirun dicht neben sich, damit die Männer nicht auf den Gedanken kamen, er ließe sich ohne Gegenwehr von ihr trennen; Jhirun ließ niedergeschlagen den Kopf hängen und wirkte in ihr Schicksal ergeben, kaum noch daran interessiert, wohin man sie brachte. Ringsum trugen braungekleidete Dienstboten Tabletts und Leinentücher hin und her; einige eilten voraus, andere kamen zurück und standen starr an die Wand gepreßt, wenn sie mit der Wächtereskorte vorbeikamen, und wandten die Gesichter ab, erfüllt von einem Entsetzen, wie es in den schlimmsten Banditenfesten Andur-Kurshs nicht geherrscht hatte.
Jeder Diener trug auf der rechten Wange eine dunkle Narbe: Vanye sah sie auf zahlreichen Gesichtern und erkannte schließlich, daß es sich um ein ins Fleisch gebranntes Symbol handelte, das die Hausdiener von der Horde draußen unterschied.
Zorn erfüllte ihn bei dem Gedanken, daß die Lords von Ohtij-in Menschen brandmarkten, um sie zu erkennen, als wäre dies das einzige Unterscheidungsmerkmal jener, die hier in der Burg dienten. Und daß die Menschen dieses Schicksal hinnahmen — womöglich, um dem Elend draußen zu entrinnen —, erschreckte ihn wie noch keine andere Tat in diesem Land.
Die Spirale gabelte sich; sie bogen in einen Korridor ein und erreichten eine weitere Spirale, die noch ein kleines Stück nach oben führte: anscheinend hatten sie einen der äußeren Türme erreicht. Eine offene Tür hieß sie willkommen, und man führte sie in einen bescheidenen Raum, der durch ein Kaminfeuer angenehm erwärmt wurde, ein Teppich lag auf dem Boden, auf dem langen Tisch in der Mitte des Zimmers waren Kleidungsstücke und Nahrung.
Die Dienstboten, die sich noch im Raum aufhielten, verbeugten sich und eilten auf leisen Sandalen hinaus, verfolgt von den barschen Kommandos des Anführers der Eskorte. Die Wächter, die mit eingetreten waren, zogen sich zurück, und die Tür wurde geschlossen.
Laut dröhnend fiel ein Riegelbalken in die Halterungen, die nackte Wahrheit der
qujalin
-Gastfreundschaft. Vanye starrte auf die mächtige Holztür, erfüllt von Zorn und Angst, und verzichtete auf den Fluch, der über seine Lippen drängte; statt dessen umfaßte er Jhiruns zerbrechliche Schultern und führte sie zum Kamin, wo es am wärmsten war in dem Raum, der ansonsten noch kalt wirkte — dort ließ er sie Platz nehmen, so daß sie sich gegen die warmen Steine lehnen konnte. Sie raffte den Schal fest um sich und saß mit geneigtem Kopf zitternd da.
Nur zu gern hätte er sich ebenfalls gesetzt, doch der Hunger war ein wenig stärker als dieser Wunsch, der Anblick von Nahrung und Getränken eine zu große Verlockung.
Er holte die Platte mit Fleisch und Käse zum Kamin und stellte sie neben Jhirun nieder, er nahm Flasche und Becher, wobei seine Hände vor Erschöpfung und Wut zitterten, und stellte alles auf die Steine zwischen sich, ehe er niederkniete. Er schenkte zwei schäumende Becher voll und schob einen in Jhiruns untätige Hand.
»Trink«, sagte er bitter. »Wir haben genug dafür bezahlt, und wie schlimm unsere Lage auch sein mag, man hat keinen Grund, uns zu vergiften.«
Sie hob das Getränk mit beiden Händen und trank einen großen Schluck; er schlürfte das Gebräu und verzog das Gesicht, da ihm der saure Geschmack gar nicht gefiel, doch es war naß und verschaffte seinem Hals Erleichterung. Jhirun leerte ihr Gefäß, und er schenkte ihr nach.
»O Lord Vanye«, sagte sie endlich, beinahe genauso heiser wie er. »Wer hier zu Gast kommt, wäre als Toter besser dran.«
Der schützende Hort, den sich die Hiua erhofft hatten ... er
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