Morgen des Zorns
versammelten Frauen und ihre Besucherinnen während der gesamten Übertragung ihren Blick starr auf das Radiogerät gerichtet, aus dem die Stimmen drangen.
Wer sich ein Rundfunkgerät leisten konnte, kaufte gleichzeitig einen »Pick-up« in der passenden Farbe und dem entsprechenden Holz sowie eine Anzahl von »Baydaphone«-Schallplatten, auf denen zu Beginn eines jeden Liedes alle Titel der Platte bekanntgegeben wurden. Die Radiostimmen kamen meist aus Ägypten zu uns, so dass wir uns trotz des Rauschens – welches das Schicksal des Radios in jenen Tagen war – an den Dialekt der Menschen vom Nil gewöhnten. Die Aufstellung der Antenne auf dem Dach des Hauses, die Befestigung mit einem dünnen Draht und die Ausrichtung zur Hauptstadt hin, dies alles erforderte besondere Fähigkeiten, und der Erfolg war nicht unbedingt garantiert.
Zwei Filme auf einmal
Meine Mutter, die sich keine der häufigen Gelegenheiten entgehen ließ, über meinen Großvater zu spotten, behauptete, mein Opa väterlicherseits sei, kaum hatte man im Dorf einen festen Vorführraum eröffnet, in der Hoffnung ins Kino gegangen, wenigstens einmal in seinem Leben seinen Vater zu sehen, der ihn als Säugling zurückgelassen hatte und Ende des neunzehnten Jahrhunderts für immer in die USA ausgewandert war. Dies schien einer der seltenen Hinweise auf die Sehnsucht nach seinem Vater zu sein, hatten wir doch vermutet, dass der betagte Großvater bereits vor langer Zeit den Versuch, sich seines Vaters zu erinnern, aufgegeben hatte. Da Großvater aber gar nicht in der Lage war, die Vorgänge auf der Leinwand zu verfolgen, dauerte es nicht allzu lange, bis man das Echo seines Schnarchens in allen Winkeln des Saales vernahm und der Kinobesitzer wegen der Klagen eines Zuschauers einschritt und ihn weckte.
Für uns wurden an einem jeden Sonntagmorgen, zwei, ja sogar drei Filme auf einmal vorgeführt – genauer: Ausschnitte aus diesen Filmen, und dies zu einem ermäßigten Eintrittspreis. Die Objekte unserer Sehnsüchte entstammten nicht unseren Familien, stattdessen handelte er sich um kleingewachsene Helden wie Eddy Murphy oder maskierte wie »Der einsame Reiter« mit seinem widerspenstigen Pferd oder aber um noch verwirrendere Gestalten wie Jack Palance, dessen Triumphe unsere Herzen höher schlagen ließen. Wir klatschten ihnen zu, wie wir auch die ganze Karwoche über klatschten, wenn zusätzlich zu uns Horden von Mitgliedern der Bruderschaften und von ausdauernden Gottesdienstbesuchern den Saal bevölkerten, um sich »Das Leben und Leiden Jesu Christi« in einer arabisch synchronisierten Fassung anzusehen. Nur bei dem Ausruf des Gekreuzigten an seinen himmlischen Vater hatte sich der Synchronisator dazu entschlossen, die Worte im Aramäischen zu belassen: »Eli, Eli, lema sabachtani«. Und jeden Tag, von Montag bis Sonntag, schwoll das Klatschen wieder an, wenn Maria und die Frauen zum Grabe Jesu gingen und den Felsen beiseitegewälzt fanden und das Grab leer. Zwischen dieser Frömmigkeit und dem Kino bestand ein nicht leicht zu durchschauender Zusammenhang. Der Besitzer des Kinos hatte jemanden damit beauftragt, das Werbeplakat für den Kinofilm durch die Straßen zu tragen; ein kleiner Junge, der ihn begleitete, bimmelte dazu mit einer Glocke. Als er eines Tages – wir befanden uns im Monat Mai, dem Monat der Jungfrau Maria – in eines der abseits der Hauptstraße gelegenen Viertel hinunterging und ein Bild von Ava Gardner in den Händen hielt, glaubten einige Frauen, es handele sich um eine Prozession. Da hielten sie in der Hausarbeit inne und schlugen das Kreuz …
Bisweilen können wir uns besser an den Vorführsaal erinnern als an die Filme selbst. Der Besitzer hatte ihn nach seinem Sohn benannt, Marcel. Wir warteten darauf, dass die Filmvorführung begann, dann hielten wir ihm am Ticketschalter die paar Francs hin, die wir noch hatten, und er gewährte uns resigniert Einlass.
Als wir in zwei Viertel aufgeteilt wurden, wagten es nur einige wenige, die über unstrittige Anzeichen von Neutralität verfügten, sich zwischen den beiden Vierteln hin und her zu bewegen. Deshalb eröffnete man für jene, denen ein Besuch im »Marcel« vorenthalten wurde, einen zweiten Kinosaal. Dank einer Vereinbarung der beiden Kinobesitzer wurden abwechselnd in beiden Kinos die gleichen Filme gezeigt. Hatte jedoch einer von uns im Kino im Unteren Viertel einen der Abenteuerfilme verpasst und hörte uns jenen Film in den höchsten Tönen loben, dann stieg er, um
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