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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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»Leichtheit« bekam und vor der Logik des Konsums zurückwich.
Wasser und Luft
    – Girgis, du musst aufstehen und baden! Deine Frau macht dir schon das Wasser heiß, dein Bruder Antonius kommt doch in zwei Tagen aus Brasilien zurück …
    Girgis zögerte ein wenig, um dann in vollem Ernst zu fragen:
    – Und wenn er nicht zurückkommt?
    Die Anekdote mit dem Mann, der vor dem »Risiko« zurückwich, sich Wasser über den Körper zu gießen, erinnert daran, wie groß die Angst vor dem Wasser gewesen war. Vielleicht hatte der Mann geahnt, dass sich die Reise seines Bruders in die Heimat verzögern könne, galt eine Reise über das Wasser doch nicht weniger als Risiko als das Baden. Und Schwimmen, das wir niemals wirklich beherrschten, weil wir uns für Landmenschen hielten und schließlich und endlich zwei Kilometer vom Ufer des Mittelmeers entfernt wohnten, war nichts anderes als eine Variante einer Reise über das Wasser.
    Das Baden war ein Problem. Bis heute klingen uns die Befehle unserer Mütter in den Ohren, nach dem Baden nicht hinauszugehen und uns nicht der Luft auszusetzen. Denn hinauszugehen würde ein Zusammentreffen von Wasser und Luft bedeuten, und Luft war nicht minder gefährlich. Aus Angst vor einer »Verkühlung«, wie wir es nannten, vermieden wir es, uns einem Luftzug auszusetzen. Diese mysteriöse Erkrankung befiel den ganzen Körper und konnte besonders für Brust und Lungen gefährlich und sich zu einer hartnäckigen und schwer heilbaren Krankheit entwickeln. Die gefährlichste Art der Luft war die tödliche Gelbe Luft, zu deren Varianten die Atemnot gehörte, welche unweigerlich zum Tod führte.
»Radio Nahost«
    Die Nachricht machte am Sonntagmittag die Runde. »Schaltet Radio Beirut an, Odette wird um halb vier singen.« Odette, die in der Hauptstadt wohnte und gekommen war, um ihre Familie zu besuchen, war es gewesen, die die Botschaft in Umlauf gesetzt hatte. Vielleicht hatte sie jenen einzigartigen Moment ihres Lebens auch einfach bei ihrer Familie verbringen wollen. Die Bewohner des Viertels versammelten sich in den drei Häusern, in denen ein Rundfunkgerät stand. Odette, bei ihrer Tante mitten unter ihnen hockend, lauschte ihrer eigenen Stimme und lächelte, als der Jubel ihrer stolzen Mutter bei dem populären Volkslied anschwoll. Damit hatte sie begonnen und dann durch ein Lied abgelöst, von dem der Sprecher sagte, ihm hafte etwas Ländliches an, was uns aber gar nichts sagte. Die Nachbarn ließen ihre Blicke zwischen Odette, die mit ihrem schicken grünen Kleid und ihren hohen Absätzen am Kopf des Wohnzimmers saß, und zwischen dem Rundfunkgerät, aus dem ihre weiche Stimme ertönte, hin und her wandern. Es war dies eine seltene Stunde der Wahrheit für uns Kinder, die wir mit einem Male das Radio und die Technik der Aufnahmen von Stimmen entdeckten, auch wenn diese wenig durchschaubar war. Bei dieser Gelegenheit, zu der wir das Haus von Odettes Tante betraten, bekamen wir auch deren Sohn zu Gesicht. Über den Jungen, der das Haus niemals verließ, ging das Gerücht, er halte sich für einen Schauspieler und verbringe die meiste Zeit vor dem Radio, um die Stimmen der in den Programmen auftauchenden Schauspieler nachzuahmen.
    Wir kannten die Namen der Städte auswendig, die sich ganz klein nebeneinander auf der Glasfront des Rundfunkgeräts drängten und mit deren Hilfe wir »Radio Nahost« und »Radio Beirut« fanden. Es tauchten in dieser Liste auch Städte auf, von denen wir noch nie etwas gehört hatten und sonst wohl niemals hören würden, friedliche, vergessene Städte in weit entfernten Ländern, Rundfunkstädte, Hilversum, Saratow, Lemberg, Hannover und andere, die die Vorstellung von beißender Kälte im hohen Norden der Welt vermittelten und uns noch in keinem Buch untergekommen waren.
    Das Rundfunkgerät hatte wie ein Möbelstück seinen festen Platz. Es stand gut sichtbar und erhöht im Wohnzimmer oder in einem Schrank aus sorgfältig geschliffenem und gestrichenem Holz. Die tüchtige Hausfrau nähte für das Radio ein »Haus« aus himmelblauem Satinstoff, der mit drei gestickten Blumen in verwandtem Farbton verziert war. Das »Haus« wurde von der Mitte her geöffnet, indem wie im Theater die Vorhänge vollständig nach links und rechts aufgezogen wurden. Angesichts der Hörspiele, die die Rundfunkanstalten in den fünfziger Jahren sendeten, ist der Vergleich mit dem Theater keineswegs übertrieben. Wie das Theaterpublikum auf die Bühne blickt, hielten die

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