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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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und blieb erleichtert stehen, um damit zu atmen.
    »Ich muss schon sagen: Der Lippenstift macht Sie nicht gerade hübscher, Kindchen.« Er stand jetzt neben mir. Dann sah er mich im schwachen Licht prüfend an. »Ist das Blut?«
    Ich wollte den Lippenstift mit der Hand wegschmieren, wobei ich ihn im ganzen Gesicht verteilte. Um ehrlich zu sein war ich immer noch halb verrückt vor Angst. »Der Typ da drin …« Ich keuchte. »Er hätte mich fast vergewaltigt, und Sie machen Witze.«
    Silvers Miene wurde zu Eis. »Was ist passiert?«
    »Er hatte ein Foto von meinem Sohn, und er … er hat mich verprügelt. Er wollte Geld«, schluchzte ich, obwohl meine Augen trocken blieben. »Er ist ein bösartiger Bastard. Ihn müssen Sie fangen, nicht mich. Mir geht’s gut.«
    »Ihnen geht’s überhaupt nicht gut. Sie sind verletzt.« Seine Miene war immer noch undurchdringlich, aber seine Finger verstärkten den Druck auf meine Schulter. »Jetzt bringen wir Sie mal zu einem Arzt.«
    »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Bitte, Silver, Sie müssen den Typen finden. Er könnte … ich glaube, er weiß, wo Louis ist.«
    »Jess, man hat den Kerl festgenommen. Er kann nicht fliehen. Bitte, kommen Sie jetzt mit.«
    Ich entwand mich seinem Griff und beugte mich vor, um besser Luft zu bekommen. »Ich habe Sie angerufen, und Sie haben eingehängt. Ich habe Sie gebraucht, Silver. Sie sagten, Sie wären jederzeit für mich da – und dann sind Sie doch nicht gekommen.« Wieder lief ich vor ihm davon, stolperte in meinen Flip-Flops, die sich irgendwie unter meinen wunden Füßen verbogen. Silver lief mir nach und versuchte, mich zu fassen zu kriegen, aber ich war zu schnell für ihn. Ich duckte mich unter seinem Griff weg, aber er war mir auf den Fersen. »Ich konnte Sie nicht verstehen, Jess. Die Verbindung war zu schlecht. Jetzt seien Sie nicht albern.«
    »O Verzeihung, ich habe wohl vergessen, dass Sie zu tun hatten.« Die Wut durchpulste mich wie Stroboskopblitze. Ich zitterte vor Zorn, Verletztheit und schierer, nackter Angst. »Und wie hat Ihnen die schöne Agnes gefallen? Gut, nehme ich an. Meinem Mann jedenfalls gefällt sie immer noch. Offensichtlich. Sie sieht wirklich gut aus, nicht wahr?«
    Plötzlich verwandelte sich mein Ärger in Kälte. Ich meinte fast zu erfrieren. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so einsam gefühlt. Die Straßen in der Umgebung waren voller Menschen. Menschen, die auf Partys gingen, Kids, die irgendwo ein billiges Lokal suchten, gut verdienende Angestellte auf der Jagd nach ein wenig Koks, Eltern, die sich nach einem der seltenen Abende außer Haus beeilten, um den Babysitter zu erlösen. Nur ich! Ich war ganz allein. Ich und nur ich. Mit meiner Qual, einer Qual, bitterer und erbarmungsloser, als ich sie je verspürt hatte. Das Einzige, was je wirklich mein gewesen war, war weg. Es war mir genommen worden. Mein Grund, jeden Morgen aufzustehen und zu atmen, war nicht mehr da. Unbewusst hatte ich mein Leben lang auf Louis gewartet. Als er dann endlich da war, hatte er mich aus meinem Schlummer erweckt. Nun hatte jemand anderer ihn. Es fiel mir jeden Tag schwerer, noch an ihn zu glauben, an sein lustiges Gesicht mit den Pfirsichbäckchen und dem schiefen breiten Lachen. Ich wusste nicht, wie ich weitermachen sollte, wenn ich Louis nicht bald wiedersah.
    Endlich kamen die Tränen. Ich krümmte mich und weinte, als müsste ich sterben. Ich sog die Luft ein, als täte ich meine letzten Atemzüge. Ich fiel auf die Knie, wie in der ersten Nacht, als Louis verschwunden war, und schlug langsam und bewusst mit dem Kopf auf das Pflaster.
    »Aufhören, Jess, bitte. Sie tun sich ja weh.« Silver lag neben mir auf den Knien, hielt mich, hielt meinen Kopf und schaukelte mich wie ein kleines Kind. Eine Weile kämpfte ich dagegen an, dann legte ich meinen blutenden Kopf an seine Brust und beschmutzte sein schickes Hemd mit Tränen, Blut und Tanyas merkwürdigem Lippenstift. Ich weinte und weinte und versuchte, mit Hilfe des Inhalators Luft zu bekommen, bevor ich für immer unter all dem Schmerz zusammenbrechen würde. Schließlich wurde mein Schluchzen leiser und leiser. Die Tränen flossen nicht mehr gar so zahlreich. Dann wischte Silver mein Gesicht mit dem jungfräulichen Taschentuch ab, das seine Frau wohl für ihn gebügelt hatte, und trug mich mehr oder weniger zum Wagen. All das geschah so sanft, so liebevoll, dass ich ihm fast vergab, dass er nicht da war, als ich ihn gebraucht hätte. Fast, aber

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