Morgen ist der Tag nach gestern
fällt zu Boden. Noch einmal sieht er durch das Fernglas hinunter auf die Trauerbirken.
Das war ein Fehler gewesen! Das hätte er diesem Bullen besser nicht gesagt.
12
Gegen ein Uhr kam Simon nach Hause. Er sagte zu Marion, dass Miriam mit dem nächsten Bus kommen würde. Sie müsse ihrer Freundin Laila, die seit Montag krank war, erst noch die Hausaufgaben bringen
.
Als ich um zwei Uhr ins Haus zurückkam, war sie noch immer nicht da. Marion rief bei Laila an. Nein, Miriam sei höchstens eine Viertelstunde geblieben und dann zum Bus gegangen. Wir warteten weiter
.
Er schluckt an der Erinnerung. Sie warteten nicht unbesorgt, je weiter die Zeit fortschritt. Eher mit dieser verärgerten Art der Sorge. Diese Art, mit der man fragt: Wieso trödelt sie ausgerechnet heute?
Marion hatte diese Falten auf der Stirn, diese Sorgenfalten. Ich fragte, ob ich mal losfahren solle und sie aufgabeln?
Er weiß noch, dass er das in diesem leicht spöttischen Tonfall gesagt hatte. Dieser Ton, mit dem man eine Sorge mildern will. Der sie auffordern sollte, das Angebot zuversichtlich abzulehnen. Aber das tat sie nicht.
Sie sah mich mit ihren großen, braunen Augen an und nickte
.
Die nächsten Stunden kann ich nur schwer beschreiben. Die Zeit des Suchens, die Zeit des Hoffens. Ich fuhr den Schulweg ab. Überholte den Bus, in dem sie sein konnte. Ich erwartete ihn an der nächsten Haltestelle. Ich fragte den Busfahrer. Ich fuhr die Seitenstraßen ab. Ich lief im Park die Wege ab und rief ihren Namen über den Rasen, zwischen die Bäume, über den Teich
.
Zu Hause hatte er die Küchenuhr anzutreiben versucht, damit der nächste Bus sein Kind nach Hause bringt. Im Park wollte er die Zeit anhalten. Jede Minute fraß ein Stück seiner Zuversicht, weichte sie auf, machte sie durchlässig für schreckliche Ahnungen.
Marion erreichte mich auf dem Handy. Sie weinte. Daniel war da. Er würde zu Laila fahren. Simon suchte mit dem Fahrrad die Feldwege in der Umgebung ab
.
Ich weiß nicht, ob es ihr Weinen war, oder der Satz: Simon sucht auf den Feldwegen! Aber ich weiß, dass es sich anfühlte wie schwarzes, langsam steigendes, eiskaltes Wasser. Wie in einem Sog versank ich tiefer und tiefer. Mein Herz stolperte einige Male und dann raste es vor Angst. Mein Verstand suchte nach logischen Erklärungen. Erklärungen, die beruhigen sollten. Erklärungen, die die schrecklichen Ahnungen, die unter der Angst warteten, widerlegen sollten
.
Es war kurz nach fünf Uhr als ich wieder zu Hause war. Marion kam sofort herausgelaufen. Auf halbem Weg blieb sie abrupt stehen und starrte mich ungläubig an. Ich habe es gesehen!
Er setzt das Ausrufezeichen und nickt.
Es sind solche kleinen Dinge, die von allergrößter Bedeutung sind. Es sind solche kleinen Dinge, deren Bedeutung man erst sehr viel später begreift.
Wir riefen die Polizei an. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, schleuderte meine Angst diesem Mann am andern Ende der Leitung entgegen. Was er zu sagen hatte, klang beruhigend: Fünfundneunzig Prozent aller vermissten Kinder tauchen wohlbehalten wieder auf. Nun bleiben Sie mal ruhig. Ich schicke Ihnen eine Streife
.
Ich glaube, es war diese Prozentzahl, die mich tatsächlich beruhigte. Die restlichen fünf Prozent, so schien es mir, waren zu klein für meine Tochter
.
Ich sagte Marion, was der Polizist gesagt hatte. Sie zeigte keine Regung. Ihr hübsches Gesicht mit den großen Augen, ihre dunklen Locken, ihre fein gezeichneten Lippen, alles schien wächsern und in Auflösung begriffen. Mit einer Stimme, die ich noch nie gehört hatte, einer fast kindlichen, vorwurfsvollen Stimme, sagte sie: Du hast sie nicht gefunden!
Dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich in den breiten, schwarzen Ledersessel. Sie zog die Beine auf die Sitzfläche und starrte zum Fenster hinaus
.
Er war, zusammen mit diesem Vorwurf, in der Küche zurückgeblieben.
Die Streife kam. Ein junger Mann und eine junge Frau. Sie stellten Fragen, ließen sich den Verlauf des Tages erklären.Marion lehnte an der Spülmaschine, musste immer lange nachdenken, bevor sie antwortete. Sie fragten nach Streit und nach Schulproblemen, nach unerlaubten Freunden und ob sie mal Miriams Zimmer sehen könnten
.
Ich erinnere mich, dass meine Frau mich ansah: Für einen Augenblick war wieder Leben in ihrem Gesicht. Wir hatten den gleichen Gedanken. Mein Gott, ihr Zimmer! Sie ist in ihrem Zimmer! Sie macht Hausaufgaben … sie schläft … sie liegt auf dem Bett und hat die
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