Morgen ist der Tag nach gestern
kranker Blässe. Die Tage waren nicht hell und die Nächte ohne diese Finsternis, die alles unsichtbar macht, auch den Schmerz. Ein schleichendes Gleichmaß, das Ruhe vorgaukelte. Wie dumpfer Schlaf, den man mit Hilfe von Tabletten findet. Schlaf, der ohne Wärme ist, der Zerrbilder schickt, wie Nebel in feuchter Herbstkälte.
Er blättert die eng beschriebene Rechenheftseite um. Wieder liegen hunderte von kleinen grauen Kästchen vor ihm.
Fast ein Jahr verging. Marion schluckte vier bis fünf Mal am Tag Beruhigungsmittel. Ihr Misstrauen gegen mich blieb und im Februar 2002 zog sie aus. Ich war froh. Ihre Blicke waren mir unerträglich geworden
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Hatte ich in den ersten Wochen noch täglich bei der Polizei angerufen, so ließ ich nach und nach davon ab. Es war aussichtslos. Ich hatte den Eindruck, andere Fälle hatten sich in den Vordergrund geschoben. Die Suche nach meiner Tochter war höchstens noch zweitrangig, aber wahrscheinlich nicht mal mehr das. Und den Satz: Uns liegen keine neuen Erkenntnisse vor, wollte ich nicht mehr hören
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Im Oktober 2002 stand er plötzlich auf dem Hof
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Ich sprach mit einem meiner Fahrer über die für den nächsten Tag geplante Inspektion des LKWs. Wir gingen die Liste durch und kreuzten an, was in der Werkstatt überprüft werden sollte
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Der Fremde trug eine schwarze Lederjacke und Jeans. Ganz selbstverständlich stand er mitten auf dem Platz und wartete. Sein schwarzes Haar hatte einen tiefen Ansatz und war nach hinten gekämmt
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Ich ging auf ihn zu und sagte: Tut mir leid, aber ich brauche keine Leute!
In den letzten zwei Jahren kamen ständig Männer und auch Frauen, die nach Arbeit fragten. Feld-, Fahr- oder Hilfsarbeiten. Ganz egal, Hauptsache Arbeit! Die Geschäfte liefen nicht gut und ich war froh, dass ich keinen meiner Leute entlassen musste
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Aber er schüttelte den Kopf und sagte: Ich würde gerne mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen! Can Yildiz, stellte er sich vor
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Er hält einen Augenblick inne. Der Mann hatte das ganz selbstverständlich gesagt, ganz leicht, sodass es ihm den Atem verschlagen hatte. Dann hatte er geflüstert, ganz leise in seine Wunde gesprochen.
Er hatte Miriams Verschwinden in der Zeitung verfolgt. Er sagte Sätze wie: Sie war bei ihrer iranischen Freundin zu Besuch. Sie kam aus deren Haus. Ihre Tochter hatte dunkles Haar und einen eher braunen Teint. Man hätte sie auch für das Kind eines Iraners halten können, oder?
Ich sagte ihm, dass die Mutter meiner Frau Spanierin sei. Ich weiß nicht, warum ich das sagte
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Und ich verstand nicht, was der Mann von mir wollte, aber mit jeder Feststellung gab es in mir dieses Nicken, dieses: Ja! Ja, aber worauf willst du hinaus?
Er gab mir seine Karte. Wenn ich mich für das Verschwinden anderer Mädchen unter den gleichen Umständen interessieren würde, könnten wir reden. Mädchen, die so alt waren wie Miriam und die, wie Laila, als gefährdet galten!
Ich nickte distanziert und nahm die Karte. Den Rest des Tages ging mir Can Yildiz nicht mehr aus dem Kopf. „So gefährdet wie Laila“, hatte er gesagt und mir fielen die Thesen der Polizei wieder ein. Sie hatten über eine Verwechslung nachgedacht. Sie hatten an einem der ersten Abende gesagt: Wir ziehen in Betracht, dass das Opfer dieser Entführung eigentlich nicht ihre Tochter sein sollte, sondern Laila!
Damals hatte ich gedacht: Wieso sagen die das? Glauben die wirklich, dass uns das tröstet?
Aber jetzt schien auch ein anderer, einer der keinen Grund hatte mich zu trösten, in diese Richtung zu denken
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Am nächsten Tag rief ich ihn morgens an. Wir trafen uns in einem Café. Er hatte Fotos dabei. Er nannte Namen und Daten. Bahar 1999, Rojin 2000, Saida 2002. Seine Nichte! Alle diese Mädchen waren gefährdet gewesen. Die Polizei vermutete, dass sie von den Vätern ins Heimatland entführt wurden. Iran, Libanon, Syrien. Aber seine Nichte, das wisse er genau, sei nicht bei seinem Bruder
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Er trank Tee. „Sehen Sie“, sagte er, „jedes Jahr ein Mädchen, immer ein anderes Bundesland. Bahar aus Thüringen, Rojin aus Bayern, Saida aus Hessen. Alle zwischen elf und dreizehn Jahren. Nur eine Lücke in der Reihenfolge. 2001! Lailas Mutter hatte dem Jugendamt mitgeteilt, dass sie Angst habe, der Vater könne Laila mit in den Irak nehmen. Laila hätte in diese Liste perfekt hineingepasst. Ich glaube, Ihre Tochter ist verwechselt worden!“
Er legt den Stift beiseite und reibt sich die Augen. Er weiß noch, dass auf dem kleinen Tisch
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