Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen ist der Tag nach gestern

Morgen ist der Tag nach gestern

Titel: Morgen ist der Tag nach gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
Vom Netzwerk:
hätte.
    Nein, er muss sich keine Sorgen machen. Er kann die Tage mit ausgedehnten Spaziergängen mit dem Hund verbringen, den Sommer auf der Terrasse genießen, in den Urlaub fahren oder ins Gefängnis gehen.
    Er hat sich diesen Tag anders vorgestellt. Er hat geglaubt, die Schwere in seinem Herzen würde sich auflösen, aber stattdessen nimmt diese Gleichgültigkeit ihn in Besitz, eine Gleichgültigkeit, die schmerzt.
    Er schaltet den Computer aus und holt ein rotes Din-A4 Schulheft aus der linken, unteren Schublade. Auf dem Deckblatt steht auf den vorgezeichneten Linien in kindlicher Handschrift: Miriam Wessel. Auf der Linie darunter: Rechnen.
    Nur die ersten beiden Seiten sind mit in Fünferpäckchen angeordneten Malaufgaben beschrieben. Die Siebenen haben eine kleine aufstrebende Linie, bevor sie in eine geschwungene Waagerechte übergehen, die am Ende wieder aufsteigt. Es sieht aus, als habe die Zahl zwei kleine spitze Ohren.
    Mindestens hundert Mal hat er die Aufgaben schon durchgesehen. Immer und immer wieder. Sie sind alle richtig gelöst bis auf eine. Im letzten Päckchen hatte sie zwölf mal sechs gerechnet und zweiundachtzig herausbekommen. Er lächelt den Zahlen entgegen. Die Zwölferreihe hatten sie noch zwei Tage vorher geübt und sie hatte genau diesen Fehler schon an jenem Abend gemacht. Er hatte gesagt: „Prinzessin, das ist doch ein einfacher Sprung von sechzig auf zweiundsiebzig.“ Da hatte sie tief durchgeatmet und empört ausgerufen: „Ja, aber für mich ist das ganz schön schwer! Alles was über fünfzig ist finde ich unübersichtlich.“
    Er dreht das Heft auf die Rückseite und greift nach dem silbernen Montblanc-Füller, den seine Frau ihm zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
    Er würde es in ihr Heft schreiben. Niemandem gegenüber fühlte er sich zur Rechenschaft verpflichtet, aber er würde Rechenschaft ablegen. In ihrem Rechenheft!
    Nissen, 12. August 2003
    Ich will meiner Strafe nicht entgehen. Ich will weder um Verständnis oder Mitgefühl buhlen, noch um Verzeihung bitten. Ich würde es wieder tun, immer und immer wieder. Ich bin nicht der, der die andere Wange hinhält, und ich bin auch nicht der, der sofort losgeht und seine Rechte einfordert. Ich bin ein geduldiger Mensch und lange Zeit habe ich viel Glück gehabt. Ich habe es sicher oft nicht wirklich zu schätzen gewusst, aber es hat Augenblicke gegeben, da hätte ich zerspringen können vor Glück und Dankbarkeit
.
    Er sieht zum Fenster hinaus. Es waren immer Augenblicke der Ruhe, des Stillhaltens. Es waren die Augenblicke der Vögel mit ihrer Leichtigkeit und ihren hellen Tönen. Sie waren selten und dauerten nur Sekunden, aber er erinnert sich an durchscheinendes Licht und eine Verbundenheit mit allem, was lebt. Nur ganz kurz. Dann spürte man das Gewicht des Körpers auf den Füßen und es ist vorbei.
    An einem Sommermorgen um fünf Uhr in der Frühe auf dem Feld hatte er es erlebt. In den Armen seiner Frau hatte er es erlebt, als seine Söhne geboren wurden und Jahre später, als Miriam auf die Welt kam. Mit ihr wurden diese Augenblicke häufiger. Als sie ihre ersten Schritte tat, hatte er es erlebt. Es waren nur drei Schritte, aber sie kam auf ihn zu und fiel ihm in die Arme, als sei er das rettende Ziel. Damals hatte er es zum ersten Mal gesagt: „Keine Angst! Dir wird nichts passieren, so lange ich lebe.“ Damals hatte er es zum ersten Mal versprochen.

    3
    Die Hitze liegt seit Wochen wie ein schweres Kissen auf der Stadt. Im flirrenden Tageslicht halten Sekundenzeiger inne, um Kraft zu schöpfen für den nächsten Schritt. Stunden tropfen zäh vom Morgen zum Mittag und vom Mittag zum Abend. Selbst die Nächte bringen keine Abkühlung, nur schwüle Dunkelheit.
    Die licht- und wärmeabweisenden Rollos in seinem Büro sind heruntergezogen, die Fenster in der Hoffnung auf einen Luftzug auf Kippe gestellt.
    Die Tage verlaufen ruhig, selbst das Verbrechen scheint auf Abkühlung zu warten.
    Böhm sitzt seit sechs Uhr am Schreibtisch. Bei erträglichem Wetter wäre er um diese Zeit allein auf dem Flur der Abteilung Kapitalverbrechen, aber seit Tagen kommen auch die anderen Kollegen in den frühen Morgenstunden, um in der heißen Mittagszeit eine Pause einlegen zu können.
    Böhm ist seit Anfang des Jahres, nach neun Monaten Sonderurlaub, zurück.
    Es ist kurz nach sieben, als Steeg an seine geöffnete Bürotür klopft.
    „Morgen, Peter!“
    Böhm dreht sich mit dem Stuhl zur Seite und nickt ihm zu.
    „Morgen,

Weitere Kostenlose Bücher