Morgen ist der Tag nach gestern
Er hatte gedacht, wenn er weine, betrauere er sie. Wenn er weine, sei sie tot. Aber dieser furchtbare Verdacht hatte ausgereicht.
Marions Blick veränderte sich. War er bisher hohl und ohne Ziel gewesen, so als würde sie durch ihn hindurch sehen, so nahm sie ihn jetzt wieder wahr. Auf eine beobachtende, misstrauische Art.
An diesem Abend ging Marion nicht in unser gemeinsames Schlafzimmer. Sie ging in Miriams Zimmer. Die Nacht war sicher nicht dunkler als die Nächte zuvor und doch, mir erschien sie von einer Schwärze, die nie wieder weichen würde
.
Das Bollwerk, das ich in mir errichtet hatte, dieser Schutzwall, mit dem ich den Gedanken an Miriams Tod abgewehrt hatte, brach in sich zusammen und ich weinte
.
Wieder legt er den Stift beiseite.
Und weil man so nicht leben kann, weil man so nicht leben will, sucht der Verstand nach einem Ersatz, um den Schmerz erträglich zu machen. Mit diesem sicheren Gefühl vernichtet zu sein, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Man kann sich ergeben. Heute denkt er, das ist Gnade. Gnade fordert keine Gerechtigkeit. Sie duldet Schuld und fordert keine Rache. Aber sein Schmerz war nicht von dieser Art. Er brauchte ein Ziel. Er brauchte den Gedanken, dass sein Handeln, seine Existenz, die Dinge verändern könnte.
In den nächsten Tagen zog sich die Polizei immer mehr zurück. Sie sprachen mit mir auf diese distanzierte Art, mit der man Menschen begegnet, die man nicht einschätzen kann. Denen man etwas zutraut!
Hinter ihm schlägt die alte Standuhr ihre Zeit ins Zimmer.
Dieser Argwohn hat sein Leben mit unsichtbarer Hand angetrieben. Wie Ahnungen, denen man nicht habhaft werden kann. Wie Sterne, weit hinter dem sichtbaren Firmament.
Dann hat es eine Zeit gegeben, in der ich mir gewünscht habe, man möge den Leichnam meiner Tochter finden. Sie werden sagen: Wie kann ein Vater sich so etwas wünschen. Und doch, genau so habe ich gedacht. Ich konnte die Vorstellung, sie sei irgendwo in den Händen eines Irren, nicht ertragen. Ihr Tod wäre mir erträglicher gewesen. Ihr lebloser Körper, der dieser Ungewissheit ein Ende setzen würde. Ich wollte meine Tochter endlich beerdigen
.
16
Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Böhm findet die Taste mit geschlossenen Augen. Nur Brigittes gleichmäßige Atemzüge sind zu hören. Das Fenster steht weit offen. Durch Blattwerk und feinmaschiges Fliegengitter fällt gesiebtes, rötliches Morgenlicht. Er wirft das dünne Leinenlaken zurück. Die große Buche vor dem Schlafzimmerfenster macht die Nächte erträglich. Sie hatten darüber nachgedacht sie zu entfernen, weil sie die Sicht auf den Garten nimmt. Böhm lächelt. Darüber würde er nie wieder nachdenken.
Er steht auf, putzt sich die Zähne, zieht das T-Shirt und die kurze Laufhose an. Unten im Flur, neben der Haustür, stehen Turnschuhe mit Socken.
Als er vor die Tür tritt, liegt das obere Stück Sonne wie ein Eidotter auf dem Deich. Vögel haben den Tag schon vor Stunden empfangen. Im Kirschbaum, neben der Garage, ruft eine Amsel ihr ansteigendes Tirili und eine Kohlmeise legt eine hohe, klare Viertonfolge darüber wie ein Begleitinstrument. Der Buchfink, auf dem Elektrodraht, tschilpt, als müsse er alle zur Ordnung rufen.
Böhm steigt die Betontreppe zum Deich hinauf. Mit den ersten Stufen wird das Rund der Sonne breiter und dann, je höher er steigt, verjüngt es sich wieder. Oben angekommen, sieht er den Ball hellgelb und heiß am Horizont.
Der alte Rhein liegt unbeweglich, abwartend zwischen den Ufern. In der Böschung hängt ein vergessenes rotes Handtuch. Lachmöwen schreien Pauhoo über das warme, trübe Wasser.
Peter Böhm beginnt zu laufen. Das Dorf zur Linken schläft noch. Der Deich scheint ihn direkt in das Zentrum der Sonne zu führen. Schweiß läuft ihm schon nach wenigen hundert Metern über den Rücken. Er spürt die Bewegungen seiner Muskeln, nimmt wahr, wie sein Atemrhythmus sich anpasst. Nach drei bis vier Kilometern, das weiß er, wird Atmen und Bewegen miteinander verschmelzen. Es wird gedankenlos harmonieren. Augenblicke der Leichtigkeit! Augenblicke von Freiheit!
Den Rückweg nimmt er zwischen den Wiesen und Stoppelfeldern. Das Maisfeld kurz vor dem Ortseingang sehnt sich nach Wasser. Feiner Staub gibt den Blättern einen stumpfen, braunen Schimmer.
Brigitte ist in der Küche, als er klatschnass geschwitzt seine Schuhe im Flur auszieht und im Badezimmer verschwindet. Seit gut einem Jahr arbeitet sie wieder. Während das nur leicht gewärmte Wasser auf
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