Morgen ist der Tag nach gestern
war Horstmann in Kleve wegen einer Beiratssitzung. Das hat aber eigentlich keiner wissen können, denn dieses Treffen wurde erst am Vormittag des elften August verabredet. Und es sollte am zwölften August stattfinden. Warum Horstmann schon einen Tag eher gekommen ist, konnte er sich nicht erklären. Horst-mann hat in dem Telefongespräch nichts davon erwähnt. Die Sitzung fand sozusagen außerordentlich statt, denn eigentlich war Sommerpause.“
„Hmm“, Böhm legt seine Gabel in die weiße Kunststoffschale, aus der er den Salat gegessen hat. Er sieht Steeg erwartungsvoll an. „Was gab es denn so Eiliges zu bespre-chen?“ Joop hat seine leere Pappschachtel auf dem Schoß und hört konzentriert zu.
Steeg beugt sich vor. „Genau. Da wird es jetzt interessant. Die Stiftung hat den Auftrag, Kinder innerhalb Deutsch-lands zu unterstützen, das heißt, Einrichtungen wie Kindergärten, Heime, Vereine usw. können Gelder bekommen. Sie unterstützen auch Familien, denen es finanziell schlecht geht, alleinerziehende Mütter, Frauen, die mit ihren Kindern im Frauenhaus sind und sich eine neue Existenz aufbauen müssen. Sie geben Geld für Spielplätze und so.
Diese Sondersitzung wurde einberufen, weil es einen Eilantrag gab. Die Stadt Moers wollte Gelder, um eine Grundschule zu sanieren. Der Beirat besteht aus fünf Mitgliedern und es hatte unter der Hand wohl schon so was wie eine Zusage gegeben. Horstmann war sauer. Er fand, dass das eine städtische Baumaßnahme sei und somit gegen die Satzung der Stiftung verstoße.“
Steeg lehnt sich wieder zurück. „Und darum schlage ich vor, wir nehmen uns mal jeden dieser noblen Gesellschaft vor. Außer Becker und Horstmann gehören noch Erich Peters, Ilona Maeschke und Werner Sander dazu.“
Böhm nimmt seine Brille ab. „Hat Becker gesagt, wer da angeblich unter der Hand schon Zusagen gemacht hatte?“
Steeg nickt. „Ja. Der gute Herr Sander. Und … welch ein Zufall: Herr Sander sitzt im Stadtrat von Moers!“
24
Das Bürofenster geht nach Osten raus und er kann sehen, wie die Morgendämmerung auf die Erdoberfläche krab-belt. Die erste helle Linie zeichnet Bäume und Häuser in die Weite, so als erschaffe sie sie neu. Nur wenige Minuten später zieht dieses Lichtband einen rötlichen Schimmer aus der Tiefe und legt ihn auf Zaunpfähle, Wiesen, Kopfweiden und die Terrasse neben dem Wohnhaus. Die Dinge treten hervor, werden sichtbar. Sie gehorchen dem Rhythmus einer unhörbaren Musik.
Als Miriam noch da war, hatte auch sein Leben diesen selbstverständlichen Rhythmus gehabt. Die Tage hatten Rituale, eine leise Struktur, die in ihrem gegenseitigen Umsorgen gelegen hatte. Das war ihm selbstverständlich gewesen. Er hatte es nicht mal bemerkt.
Seit Miriam nicht mehr da war, hatte sein Leben keinen Rhythmus mehr. Er hatte seine Arbeit. Aber er tat sie ziellos, lediglich einer stumpfen Routine folgend und ohne zu wissen, ob er sie auch morgen tun würde. Der Schmerz war im Laufe der Zeit dumpf geworden. Immer da, immer spürbar, wie zerschundene Füße, auf denen man weiterläuft, weil man muss. Weil man, wenn man aufgibt, liegen bleibt.
Er nimmt den Stift wieder auf. Er ist müde, die kleinen Karos des Rechenblattes verschwimmen vor seinen Augen.
Ich rief Yildiz am nächsten Morgen schon um sechs Uhr in der Frühe an. Wir trafen uns um neun Uhr wieder in dem Café. Yildiz saß an einem Tisch und trank Tee. Er begrüßte mich mit einem kurzen Kopfnicken. Bülent, Can Yildiz Bruder, wurde hier polizeilich gesucht. Darum kümmerte er, Can, sich um die Angelegenheit. Das sei seine Pflicht, sagte er
.
Er sprach vom Haager Übereinkommen und dem europäischen Sorgerechtsabkommen. Er erklärte mir, dass die Mädchen alle aus Ländern kamen, die diese Vereinbarungen nicht unterzeichnet hatten. Staaten, wo man davon ausgehen konnte, dass es dort höchst selten eine Zusammenarbeit mit den Behörden anderer Länder gab. Yildiz hatte Kontakt zu den Müttern der Mädchen aufgenommen. Alle waren im Laufe des Mittags spurlos verschwunden. Bei allen Mädchen hielten sich die Väter bereits vorher im Ausland auf. Bei allen Mädchen war den deutschen Behörden der genaue Aufenthaltsort nicht bekannt
.
Ich weiß noch, dass ich nickte. Nicht, weil ich verstanden hatte, worauf er hinaus wollte. Eher um meine Bereitschaft zu signalisieren
.
Can Yildiz redete weiter und langsam wurde mir klar, was er dachte. Irgendjemand hatte Zugang zu all diesen Informationen gehabt. Irgendjemand
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