Morgen ist der Tag nach gestern
auf die Garderobe und humpelt in die Küche. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: Ich kann meine Zeugnisse nicht finden. Bin zur Volkshochschule und besorge Duplikate.
Sie zerknüllt das Papier und wirft es auf den Boden.
Der, mit seiner pedantischen Ordnung, kann seine Zeugnisse nicht finden. Da stimmt doch was nicht!
22
Im Radio haben sie es durchgegeben. Er hatte die Fenster im Badezimmer geputzt und das kleine, wasserfeste Radio, das in der Dusche hing, eingeschaltet. Eigentlich wegen der Musik. Er hatte gedacht: Nur noch dieses Fenster. Ich habe meine Arbeit gut gemacht. Ich kann mir ein bisschen Musik ruhig gönnen. Und dann das. Er hatte den Klever Sender eingeschaltet. Es war elf Uhr und sie brachten die Nachrichten. Da hatte er es gehört. Er hatte sich erschrocken, aberer war ruhig geblieben. Zuerst das Fenster, hatte er sich gesagt und seine Arbeit konzentriert zu Ende gebracht.
Er geht in die Küche und kocht Kaffee. Mutter hat die benutzte Filtertüte in der Kaffeemaschine gelassen. Das ist Müll! Müll gehört in den Mülleimer und nicht in die Kaffeemaschine.
Er öffnet die Besteckschublade und nimmt einen Kaffeelöffel heraus. Er steht vor der geöffneten Schublade und sieht auf das Besteck. Den Kopf gesenkt wandert sein Blick langsam hoch zur Kaffeemaschine und wieder zurück in die Schublade. Dann greift er hinein und nimmt das Küchenmesser heraus. Mit einer kurzen Bewegung ritzt er eine kleine Kerbe in die Arbeitsplatte. Mutter wird sich ärgern, aber ein benutzter Filter gehört in den Mülleimer!
Mit der Isolierkanne und einem Becher mit einem Berliner Bären drauf steigt er hinauf in seine Gaube. Er stellt Kanne und Tasse auf den Tisch. Das Fernglas steht noch vom frühen Morgen auf dem Stativ.
Morgens waren deutlich weniger Menschen auf Horstmanns Grundstück gewesen und er hatte gehofft, dass auch die bald verschwinden. Aber jetzt haben sich die Dinge geändert und er muss in Ruhe nachdenken. Der zweite Tote könnte Jochen sein. Aber das würde bedeuten, dass er noch einmal zurückgekommen war, und dass Horstmann ihn eingelassen hatte.
Er steht vor dem Fernglas, den Becher in der Hand rührt er Zucker in seinen Kaffee.
Er zieht den Löffel aus der Tasse und schleudert ihn gegen die Wand. Sie hatten ihn reingelegt. Sie …, aber er konnte ja ruhig bleiben. Wenn sie beide tot waren, konnte ihm nichts passieren! Er sieht durch das Fernglas und lächelt. Abrupt wendet er sich ab. Der heiße Kaffee in seinem Becher schwappt über, läuft am Tassenrand hinunter auf seine Hand. Er beißt die Zähne aufeinander und zieht die Luft ein. Ein zischendes Geräusch entsteht. Im Hintergrund hört er die Männer an der Ruine sich etwas zurufen. Er kann es nicht verstehen.
Er schreitet die Breite seiner Gaube ab. Immer hin und her. Acht Schritte sind es in jede Richtung. Er kennt den Takt und die Schrittlänge, die er braucht, um sich zu beruhigen, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Mutter hat die Filtertüte nicht in den Mülleimer getan. Er muss Zeugnisse besorgen, irgendwie Zeugnisse besorgen. Aber wie? Die Fenster sind sauber! Horstmann ist tot und wahrscheinlich auch Jochen. Wieder sieht er durch das Fern-glas. Männer schleppen Bretter und Bauträger zur Ruine.
Nein, er muss wissen, ob der zweite Mann Jochen ist. Er muss nach Emmerich fahren. Aber jetzt ist es noch zu früh, vor vier Uhr am Nachmittag braucht er da gar nicht hin.
Mit großen Schritten läuft er die Treppe hinunter in die Küche. Er nimmt ein Bier aus dem Kühlschrank. So ist das nun mal, wenn er sich aufregen muss. Da kann er nicht auch noch Kaffee trinken. Er zieht den Ring der Bierdose ab, stellt sich ans Küchenfenster und trinkt.
Martin hieß der Angestellte in der Videothek. An einem ruhigen Nachmittag waren sie ins Gespräch gekommen. Er hatte in den letzten Wochen den hinteren Teil der Verkaufsflächen benutzt. Den abgetrennten. Nur für Erwachsene.
Billiger Kram ist das, hatte Martin gesagt. Ich sehe ja, was du so leihst, ich mein in welche Richtung. Aber was wir hier haben, das bringt’s nicht. Wenn du mal richtig gute Sachen sehen willst, kann ich dir da was besorgen.
Und das hatte er auch getan. Regelrecht genötigt hatte er ihn. Er hatte in Wirklichkeit gar kein Interesse gehabt, hatte zu Martin gesagt, ach, ich weiß nicht? Aber der hatte immer wieder davon angefangen und dann hatte er sich breitschlagen lassen. Eigentlich nur, um diesem Martin einen Gefallen zu tun. Du bist zu gutmütig, sagte
Weitere Kostenlose Bücher