Morgen letzter Tag!
anderen wollen, immerhin weiß man ja kaum, was man selbst will. Bei dem, was man nicht will, wird es zwar schon einfacher, aber auch nicht unproblematisch.
Und auch das vorher angesprochene Argument für die Goldene Regel, nämlich dass sie bestätigt wird, indem man sie übertritt, ist nicht unproblematisch. Das zeigt exemplarisch der Fall des » Kannibalen von Rothenburg«, der sich an die Goldene Regel hielt und sie gleichzeitig auch übertrat. Im Regelfall geht man mit gutem Recht davon aus, dass Menschen nicht gegessen werden wollen. Deswegen gilt die Regel, du sollst andere Menschen nicht essen, denn das mögen sie nicht. Und du willst vice versa auch nicht von anderen gegessen werden. Der » Kannibale von Rothenburg« aber wollte, aufgrund einer abweichend verlaufenen Sozialisation, eben genau jemand anderen essen. Nicht weil er Hunger litt, sondern aus obskuren sexuellen Gründen. Dass er jetzt aber genau auf jemanden trifft, der seinerseits aus sexuellen Gründen davon träumt, verspeist zu werden, wäre bis zur Erfindung des Internets ein fast schon unmöglich zu nennender Zufall gewesen. Doch das weltweite Netz machte es möglich. Jetzt fanden sich tatsächlich zwei, die sich ansonsten wohl nie gefunden hätten. Einer wollte gegessen werden, der andere wollte essen. Hier war der Satz » Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem anderen zu« also außer Kraft gesetzt und in sein Gegenteil verwandelt worden. Dennoch sind die meisten weit davon entfernt zu behaupten, der » Kannibale von Rothenburg« hätte in bewundernswerter Weise moralisch einwandfrei gehandelt. Bestenfalls würde man es ihm als mildernden Umstand anrechnen, dass er nicht aus dem Gebüsch heraus den Nächstbesten angefallen hatte, um ihn zu verspeisen, der womöglich, wie die meisten Menschen, überhaupt gar keine Lust dazu hatte.
Die Regel gilt also tatsächlich nur im Regelfall. Der Ausnahmefall fällt nicht unter die Regel, auch dann nicht, wenn sich die Ausnahme wie der Kannibale an die Regel hält. Was der Kannibale und sein Opfer mit ihrem Hirzen » gesehen« haben, war etwas fundamental anderes als das, was die Mehrheit wahrgenommen hat. Es gibt also fundamentale Unterschiede zwischen den Menschen, während die Goldene Regel auf fundamentale Gleichheit abzielt. Das wiederum aber zeigt, dass die Regel eben doch kein übergreifendes Naturgesetz ist, das auch durch seine Übertretung bestätigt wird, sondern wieder nur eine Vereinbarung zwischen Menschen. Denn der Kannibale hatte die Regel übertreten, ohne sie zu ignorieren.
Wie soll man damit jetzt umgehen?
Um die Regel zu retten, könnte man vorschlagen, den » Kannibalen« aus der Menge von » allen« herauszunehmen, indem man beschließt, er sei kein Mensch, sondern wahlweise ein Unter-, Un- oder Über-Mensch. Geschmackssache. So kann man die Regel für alle anderen beibehalten. Aber damit begibt man sich wiederum aus dem Feld der überzeitlichen intersozialen Moral in den Bereich jener Ethik, die Aristoteles beschrieben hatte. Ethik sei ein zu einer bestimmten Zeit, von vernünftigen wohlwollenden Menschen vereinbartes Regelsystem, das immer wieder den jeweiligen Bedürfnissen der sich verändernden Gesellschaft angepasst werden muss.
Regeln sind also modifizierbar durch Ort und Zeit. Überzeitliche ortsunabhängige Metaregeln gibt es nicht.
Das ist jetzt als Ergebnis unserer Überlegungen keine Kleinigkeit. Denn auf diese Weise gibt es eigentlich keine Möglichkeit mehr, moralisch abweichendes Verhalten zu verurteilen. Oder besser, nur » kleine« moralische Verfehlungen, die innerhalb eines Ethos begangen werden, können zu Recht verurteilt werden. Wenn sich aber der gesamte Referenzrahmen eines Ethos verschoben hat, dann kann » abweichendes« oder » unmoralisches« Verhalten innerhalb des so verschobenen Referenzrahmens an sich nicht mehr so bezeichnet werden. Also wirklich schlimme, sogenannte Menschheitsverbrechen werden unter diesem Gesichtspunkt zum normalen Verhalten in einem bestimmten Ethos zu einer bestimmten Zeit.
Das ist selbstverständlich ein völlig unbefriedigendes Ergebnis. Auch weil es dem eigenen Rechtsempfinden in unseren Hirzen völlig widerspricht. Aber ist nicht dieses jeweilige » Rechtsempfinden« nur das Ergebnis unserer jeweiligen Sozialisation in unserem aktuellen moralischen Referenzrahmen? Wenn wir also in der Geschichte zurückblicken, dann sehen wir Verbrechen wie einen Völkermord mit Abscheu und als größte anzunehmende
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